Von Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel stammt der Satz: „Politik ist das, was möglich ist.“ Mit diesem maximal pragmatischen Politikverständnis hat sie die Bundesrepublik 16 Jahre lang durch diverse Krisen geführt. Als eine visionäre Vordenkerin, eine Politikerin, die mit Pathos für das Unmögliche kämpfte, ist sie da niemandem aufgefallen. So ist es fast ironisch, dass gerade zum Ende ihrer Amtszeit das scheinbar Unmögliche mit einer Wucht zum Möglichen und damit zu ihrer Politik werden konnte.

Dies steht symbolisch für das, was die Pandemie uns langfristig gelehrt haben könnte: Politik mag das sein, was möglich ist – aber möglich ist häufig viel mehr, als wir uns gemeinhin vorstellen können. Hätte sich vor zwei Jahren jemand träumen lassen, dass wir nahezu von einem Tag auf den anderen die Schulen schließen, ohne zu wissen, wann wir sie wieder öffnen? Dass mit Hilfsmitteln digitaler Unterricht versucht wird? Hätte jemand geglaubt, dass ein Friseurbesuch erst gar nicht und später nur mit Test und Maske erlaubt sein würde? Wäre denkbar gewesen, dass die Wirtschaft ihre Produktion drosselt oder gar einstellt?
Nach dem Schock des ersten Lockdowns aus dem Frühjahr 2020 war ich fest davon überzeugt, dass wir einen derart radikalen Schritt nicht noch einmal wagen würden – zu offensichtlich sind uns die negativen Folgen gewesen. Ich sagte es sogar meinem Friseur, der sich um seinen Laden sorgte: Nein, die machen dein Geschäft nicht wieder zu. Und doch passierte es im November 2020 dann zum zweiten Mal. Der Staat reguliert die Wirtschaft mit harten Verboten. Hätte das vorher jemand geglaubt?
„Längst sind diese beiden Krisen – Corona und Klima – argumentativ mannigfaltig miteinander verwoben.“
Inzwischen haben wir dazugelernt, wir haben andere Schutzvorkehrungen und der harte Lockdown zählt nicht mehr zum vielzitierten Instrumentenkasten der Pandemiebekämpfung – zumindest vorerst. Was haben uns diese geschlossenen Schulen, die menschenleeren Straßen, die daraufhin belebten Wälder, der klare Himmel und die von Delfinen zurückeroberte Lagune von Venedig darüber hinaus gelehrt? Das Unvorstellbare kann zum Möglichen werden und damit kann es auch Politik werden – wenn der Druck groß genug ist, wenn die Angst groß genug ist, wenn die Notwendigkeit von den Verantwortlichen anerkannt wird.
Diese Lehre aus der Pandemie lässt nun die Klimaaktivisten frohlocken und die Wirtschaft zusammenzucken. Denn längst sind diese beiden Krisen – Corona und Klima – argumentativ mannigfaltig miteinander verwoben. Manchmal geht es dann dabei um ein Gegeneinander: Welche Krise verdient gerade mehr Aufmerksamkeit? Welches Problem ist das drängendste, um das sich die Politik und die Gesellschaft zuerst zu kümmern haben? Da hat die Pandemie schnell mal das Klima von der Agenda gefegt.
Welche Krise rechtfertigt womöglich, dass sogar etwas zur Verstärkung der anderen Krise getan wird? Auch da, könnte man sagen, hat etwa die massive Vermehrung des (Plastik-)Mülls von Schnelltests über Mund-Nasen-Bedeckungen das Rennen zugunsten der Pandemie entschieden. Und geht es nun um die Wiederbelebung der Wirtschaft, mag auch so mancher sagen, dass diese jetzt nach den Einschränkungen der Pandemie nicht noch durch Klimaschutzmaßnahmen gegängelt werden darf. Und jüngst haben wir noch die dritte Krise, ausgelöst vom russischen Überfall auf die Ukraine – mit schwer absehbaren Folgen für Sicherheit und Wirtschaftsleben.
„Die Corona-Pandemie hat uns Gewissheiten genommen und dadurch einen Raum der Möglichkeiten eröffnet.“
Doch Pandemiepolitik, Klimapolitik und die weltpolitische Krise gehen ganz offensichtlich auch Hand in Hand in unseren Parlamenten ein und aus. Die Klimaziele sind definiert und breiter politischer Konsens geworden. Das sind sie schon lange. Wie radikal die Maßnahmen sein dürfen, um sie zu erreichen, da hat sich das Feld des Denk- und Sagbaren durch die Corona-Pandemie verschoben und später noch einmal durch die Ukraine-Krise. Vor zwei Jahren war eine Verringerung von Flugreisen undenkbar. Die Pandemie hat dann dafür gesorgt, dass fast alle Flieger am Boden blieben. Für die Wirtschaftszweige, die daran hängen, war das zweifellos eine Katastrophe. Aber die Gesellschaft hat es akzeptiert. Und sich vielleicht auch daran gewöhnt, zumindest ein Teil der Gesellschaft. Ja, die Reiselust wächst wieder. Aber die Schönheit der eigenen Region, des wunderschönen Niedersachsens etwa, hat eine Renaissance erlebt. Es muss nicht immer Mallorca sein, es gehen auch mal Borkum oder Wienhausen.
Und Fernreisen bleiben nicht das einzige Beispiel für einen erweiterten Horizont des Möglichen: Videokonferenzen ersetzen mehrtägige Dienstreisen. Das mobile Arbeiten schützt bei Bedarf nicht nur vor einer Infektion im Büro, sondern kann auch unnötige Fahrten verhindern. Eventuell werden künftig auch weniger Büroflächen benötigt, wenn die Gestaltung von Arbeitsmodellen flexibilisiert werden. Das wiederum kann Platz schaffen für Grünes. Systembrüche sind Angela Merkel nie fremd gewesen, herbeigesehnt hat sie diese in ihrer Kanzlerschaft aber sicher auch nicht. Nun ist ein Ende der Alternativlosigkeit in Sicht, das weder von den Grünen, noch vom neuen Kanzler und schon gar nicht von der nach der Alternative benannten Partei eingeleitet wurde – sondern von der Corona-Pandemie, die uns Gewissheiten genommen und dadurch neue Möglichkeiten aufgezeigt hat.