Pro & Contra: Brauchen wir jetzt einen Lockerungsplan, damit die Menschen wieder neue Hoffnung schöpfen?
Ist jetzt, nach fast zehn Monaten Corona-Krise, eine neue Strategie fällig? Der Landtag hat darüber am vergangenen Freitag heftig diskutiert. Mehrere Wissenschaftler wie Clemens Fuest vom Ifo-Institut fordern ein klar beschriebenes Konzept, das Hinweise gibt auf die möglichen Lockerungen im Fall eines weiter starken Absinkens der Neuinfektionen. Wäre ein solches Vorgehen jetzt sinnvoll? Die Redaktion des Politikjournals Rundblick streitet darüber in einem Pro und Contra.
PRO: Bei vielen Menschen wächst das Unbehagen und die Sorge, dass man aus dem Lockdown kaum noch herauskommen kann. Jetzt braucht es Perspektiven mit einem Plan, der zumindest einen Ausweg aus diesem Hamsterrad aufzeigt, meint Martin Brüning.
Vielleicht hat man es falsch angepackt, aber natürlich ist man nachher immer klüger. Erst kam der Lockdown light, dann kam der Lockdown, und als der immer noch nicht wirkte, schoben Bund und Länder den verschärften Lockdown hinterher. Die Infektionszahlen bleiben hoch, ein richtiger Umschwung ist nur schwer zu erkennen, und bei vielen Menschen wächst das Unbehagen und die Sorge, dass man aus dem Lockdown kaum noch herauskommen kann. Die Sorge wird mit einer Debatte über das mutierte Virus, über das die Behörden nach wie vor sträflich wenig wissen, weiter gefüttert. Die Gesellschaft ist in einem Lockdown-Hamsterrad gefangen und wartet jeweils auf die neuen Hiobsbotschaften von Kanzlerin und Ministerpräsidenten.
In dieser schwierigen Phase brauchen wir keine „Experten“, die über „Zero Covid“ oder einen Lichtjahre entfernten Inzidenzwert 10 sinnieren, sondern einen Plan, der zumindest einen Ausweg aus diesem Hamsterrad aufzeigt. Christian Drosten ist ganz bestimmt ein hervorragender Virologe, auf dessen Rat und den seiner Kollegen die Politik in diesen Zeiten dringend angewiesen ist. Aber er ist kein Gesellschaftswissenschaftler, und niemand hat ihn jemals gewählt. Wenn Drosten auf Twitter über die Gefahr des Schulbetriebs schreibt, hat das allein einen virologischen Hintergrund. Es sind nicht im Mindesten die sozialen Verwerfungen eingepreist, die dazu führen können, dass manche Grundschüler aufgrund der Krise vielleicht niemals ein Gymnasium von innen sehen werden. Das gehört auch zur Wahrheit dazu, und deshalb braucht es ein breiteres Bild, und es braucht klare Perspektiven.
Es stimmt, dass die Forderung der Opposition nach einem längerfristigen Plan immer wohlfeil ist, weil Corona jederzeit für eine unglückliche Überraschung gut ist. Alle Pläne seien von Corona eingeholt oder überholt worden, stellte der Ministerpräsident am Freitag im Landtag fest. Das spielt aber keine Rolle, denn dann wäre die Alternative, besser keine Pläne mehr zu machen, und das will nicht einmal die Landesregierung, die sich bei den weiteren Planungen wieder weit abseits des Transparenzgebots bewegt. Man arbeite an entsprechenden Konzepten und werde informieren, wenn der Meinungsbildungsprozess abgeschlossen sei, verkündete Stephan Weil. Wäre das Parlament am Freitag nicht der Ort für die Debatte gewesen, wie ein solcher Plan aussehen könnte, welche Varianten gerade abgewogen werden? Dies ist nicht passiert, und so bekommen wir im Landtag immer nur retrospektive Pseudo-Debatten über angebliche Alternativlosigkeiten zu sehen und zu hören. Solche Parlamentsdebatten braucht niemand, keine Regierung, keine Opposition, keine Wähler.
Natürlich braucht eine Gesellschaft, die seit Wochen aus gutem Grund im Lockdown gefangen ist, Perspektiven. Und es spricht einmal mehr für die Überforderung der Landesregierung, dass erst jetzt oder immer noch an solchen Konzepten gearbeitet wird, wobei man inzwischen immer häufiger Zweifel bekommt, ob dieser Arbeit auch wirklich bereits im Vorfeld stattfindet oder doch nicht erst beginnt, wenn die Meinungsbildung in der nächsten Bund-Länder-Runde bereits abgeschlossen ist. Wer aber noch einen langen Atem braucht, wie der Ministerpräsident richtigerweise sagte, der braucht auch ein Ziel und den Weg dahin vor Augen. Grünen-Fraktionsvize Christian Meyer hatte am Freitag recht, als er sagte, eine gute, flexible Strategie sei „immer noch besser als keine und hektisches Stochern im Nebel“. Es ist ermüdend und demoralisierend, statt eines Stufenplans, an dem sich alle ein wenig orientieren und Hoffnung schöpfen könnten, alle zwei Wochen nur neue Entscheidungen von Kanzlerin und Ministerpräsidenten zu empfangen. Gesagt werden muss aber auch, dass die Opposition am Freitag eigene Vorschläge für einen Stufenplan aus der Krise hätte vorlegen können, um eine glasklare klare Diskussionsgrundlage zu schaffen.
Der fehlende neue Stufenplan der Landesregierung reiht sich derweil in eine Pannen-Kette ein, die langsam immer länger wird. Wie auch ein kleiner Teil der Bevölkerung hat offenbar auch die Landesregierung die Motivation verloren – in diesem Fall für das Corona-Management. Beim Impfen galt das Motto „Schwach anfangen und dann stark nachlassen“, erst kam man nicht in Tritt, dann folgte das peinliche Brief-Chaos. Von Unternehmen fordert man schneidig die Organisation der Home-Office-Alternativen, in einigen Ministerien scheint diese Forderung noch nicht angekommen zu sein. Patientenschützer fordern immer noch einen besseren Schutz von Heimbewohnern, und wie es in der deutschen Bürokratie nun einmal ist, hofft man, dass viele Unternehmen die sogenannte Novemberhilfe wenigstens nun im Februar bekommen. Niedersachsen fällt im Ländervergleich immer wieder ab: NRW hat einen eigenen Expertenrat, wir haben das Sozialministerium.
Die Corona-Pandemie schlaucht – auch die Politik. Und sie macht teilweise dünnhäutig, das war am Freitag im Landtag zu sehen. Aber es gilt: Nützt ja nichts, wie die von Johanne Modder zitierten Ostfriesen gerne sagen. Die Landesregierung wäre gut beraten, über einen möglichen Stufenplan nicht nur im stillen Kämmerlein zu beraten, sondern die Möglichkeiten transparent zu diskutieren. Der richtige Zeitpunkt dafür wäre jetzt.
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Contra: So verständlich die Sehnsucht nach einem Ende der Corona-Beschränkungen auch ist – es wäre zum jetzigen Zeitpunkt falsch, die Aussicht auf eine Besserung zu vermitteln. Denn noch gibt es keinen Grund zur Entspannung, meint Klaus Wallbaum.
Was in den Corona-Verordnungen steht, ist die eine Sache. Aber wie viele Menschen kennen die Paragraphen genau, die Ausnahmebestimmungen und Sondervorschriften? Dass man zuhause maximal einen Gast empfangen darf, das hat sich rumgesprochen. Aber wie genau werden die Vorgaben sein, wenn jemand in Homeoffice gehen will, der Arbeitgeber sich aber sperrt? Da fängt die Ratlosigkeit schon an. Viele Verstöße geschehen derzeit, weil die Leute die Details nicht kennen und sich eine eigene Interpretation zurechtlegen. Getreu dem Motto: „So wird es wohl gemeint gewesen sein“. Das mischt sich mit denen, die angesichts der monatelangen Beschränkungen zunehmend trotzig werden und den Sinn einiger Auflagen nicht mehr einsehen wollen. Fällt nicht die Zahl der Neuinfektionen? Ja, das tut sie – aber gleichzeitig droht noch stärker die Überlastung der Kliniken. Umso mehr kommt es jetzt, bei derlei Widersprüchen, auf eine gute psychologische Wirkung der Politik an. Die Politiker müssen Mut machen, sich trotz aller Mühen und Umstände an die Vorgaben der Corona-Verordnung zu halten.
Was genau heißt das? Drei Dinge sind wichtig:
Erstens eine klare, einfach verständliche und einleuchtende Botschaft.
Zweitens ein Verzicht auf eine allzu ausführliche öffentliche Debatte über Einschränkungen, Wenn-Dann-Regeln, Ausnahmevorschriften oder Stufenpläne für Lockerungen, die in der Rundblick-Redaktion liebevoll „Stufi“ genannt werden.
Drittens eine möglichst breite Einmütigkeit der Regierenden, eine gute Verständigung zwischen Bund und Ländern und der Verzicht auf eine zu große Vielstimmigkeit der Spitzenpolitiker.
Auf die Forderungen von Christian Meyer (Grüne) und Stefan Birkner (FDP) in der Landtagssitzung am Freitag, die Regierung müsse unbedingt „eine langfristige Strategie für den Umgang mit dem Virus“ entwickeln, das sei „besser als das hektische Stochern im Nebel“ (Meyer). Weil erklärte, an solchen Plänen arbeite man bereits, aber das sei auch schwierig, da die neuen Mutationen des Virus weitere Ungewissheiten erzeugten. Das ist zutreffend, aber es ist nicht der wesentliche Grund. Natürlich könnte die Landesregierung ein ausgefeiltes, abgewogenes, auf verschiedenen Parametern basierendes Planspiel entwickeln, das genau anzeigt, unter welchen Bedingungen welche Beschränkungen gelockert oder sogar verschärft werden müssen. Vermutlich liegen solche Ausarbeitungen längst in den Schubladen der verschiedenen Strategen und des Krisenstabes. Nun ist es aber völlig richtig und angebracht, dass diese dort bleiben. Das hat nun wenig mit Geheimhaltungsgründen zu tun oder damit, das eine noch ungeklärte Strategie der Landesregierung – auch laut Verfassung – vertraulich bleiben sollte. Schließlich kann es hier nur um allgemeine Prognosen gehen, weniger um heikle Abwägungen. Ein wesentliches Argument ist, dass in diesen Plänen kaum Überraschungen enthalten sein können. Jedermann kann sich ausmalen, in welchen Schritten die Einschränkungen kippen werden, sollte sich die Lage wirklich entspannen. Heikel wäre allenfalls, ob man etwa im Kreis Leer bei enorm niedriger Inzidenz wieder die Gaststätten öffnen können sollte, sofern im benachbarten Aurich noch eine hohe Inzidenz bestünde. SPD-Fraktionschefin Johanne Modder hat völlig zu Recht auf die damit verbundenen Folgen aufmerksam gemacht.
Entscheidend ist jedoch etwas anderes: Es wäre wenig hilfreich, wenn wir eine breite Debatte über mögliche Lockerungsszenarien führen würden. Nein, das wäre im Gegenteil sogar schädlich – aus psychologischen Gründen. In einer angespannten Stimmung der gesamten Gesellschaft, die unter Corona wie unter einer riesigen, dauerhaften Dunkelheit leidet, müssen die Politiker alles tun, um die Ernsthaftigkeit der Lage zu unterstreichen. Jedes laute Nachdenken eines verantwortlichen Politikers über einen Lockerungsplan droht als Signal missverstanden zu werden, dass die Lage wohl nicht mehr so schlimm wäre. So richtig es aus Sicht von Wissenschaftlern ist und auch aus Sicht von politisch interessierten Menschen, sich früh mit möglichen Varianten späterer behördlicher Festlegungen zu beschäftigen, so verwirrend wäre das für alle, die nicht die letzten Details der Verordnungen kennen und sie auch gar nicht mehr kennen wollen.
Der weitere Verlauf der Corona-Krise hat sehr viel mit geglückter Kommunikation zu tun. Die allgemeine Verunsicherung in der Gesellschaft ist schon groß genug, eigentlich notwendige Vorsicht droht in Sorglosigkeit umzuschlagen. Daher sollten alle Kräfte darauf konzentriert werden, die bestehende Gefahr klar und deutlich zu benennen.