Darum geht es: Gestern hat das Justizministerium im Rechtsausschuss des Landtags über die Nachwirkungen des Falles „Jörg L.“ berichtet. Der Referatsleiter im Justizprüfungsamt hatte im großen Stil Prüfungsfragen an Examenskandidaten verkauft. Dieser Korruptionsfall hat die Justiz bundesweit aufgerüttelt. Ein Kommentar von Klaus Wallbaum.

Wie es so oft ist bei Skandalen, die große Schlagzeilen und noch größere Aufregung erzeugen – am Ende, wenn der Rauch verzogen ist, bleibt häufig nur eine kleine, überschaubare Zahl übrig. Gestern hat Rainer Petzold, Abteilungsleiter des Justizministeriums, im Rechtsausschuss des Landtags über die Folgen des Falles „Jörg L.“ berichtet. Das war jener Referatsleiter im Landesjustizprüfungsamt, der zwischen 2011 und 2014 seine berufliche Stellung dazu ausnutzte, angehenden Juristen die Prüfungsaufgaben zu verkaufen – gegen Geld oder sexuelle Beziehungen. Im Februar 2015 war er zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, auch mehrere Referendare mussten sich vor Gericht verantworten. Das Justizministerium hatte anschließend mehr als 2300 Prüfungsklausuren unter die Lupe genommen, die im weitesten Sinne unter Einwirkung von Jörg L. entstanden waren. Was ist nun am Ende aus all dem geworden? Weil im Zuge der manipulierten Klausuren der Prüfungsmaßstab verrutscht war, bot das Ministerium den Kandidaten, die damals keinen Erfolg hatten, eine Wiederholung des Examens an. Doch von 533 möglichen Bewerbern nutzten das am Ende nur 32, von denen wiederum konnten sieben ihre Endnote verbessern und fünf die Zulassung zur mündlichen Prüfung erreichen. „Wir haben also zwölf Menschen glücklich machen können“, sagte Petzold.

Das ist immerhin etwas. Der Korruptionsfall hatte dem Ruf der niedersächsischen Justiz stark zugesetzt – und das Vertrauen ausgerechnet in die Institution erschüttert, die seit Jahrzehnten als besonders korrekt, streng und formalistisch gilt. Aber wie nachhaltig war der Rückschlag tatsächlich? Dass der Fall Jörg L. etwas geändert hätte am Ansehen der Juristen, an der hohen Bedeutung der juristischen Ausbildung und daran, dass heute Juristen immer noch gern für Führungsaufgaben genommen werden, etwa in der Politik, lässt sich nicht behaupten. Insofern ist man schon wieder zur Tagesordnung übergegangen.

Das stimmt allerdings nur eingeschränkt. Denn tatsächlich hat das Landesjustizprüfungsamt jede Menge Vorkehrungen getroffen, dass sich der Fall Jörg L. nicht wiederholen kann. Als der agil, zupackend und selbstbewusst wirkende Mann in das Prüfungsamt kam, traute man ihm gleich eine Menge zu – und ließ ihn machen. Er wirkte nicht nur an den Prüfungsaufgaben mit, sondern organisierte Spezialkurse für durchgefallene Prüflinge, die es ein zweites Mal versuchten. All jene, die unter erheblichem Druck standen und unbedingt im wiederholten Anlauf die Prüfung schaffen wollten, lernten Jörg L. und seine Hilfsbereitschaft kennen – jenem Jörg L., der eben auch Zugriff auf die Aufgaben hatte oder sich diesen mangels Schutzvorkehrungen jederzeit organisieren konnte.

Heute könnte jemand so wohl nicht mehr agieren. Der Kreis derer, die Prüfungsaufgaben kennen und erarbeiten, ist kleiner geworden. Der Austausch zwischen ihnen wird schwieriger – und von den beteiligten Personen soll auch niemand wissen, wann die entwickelten Aufgaben in welcher Prüfung tatsächlich abgefragt werden. Dass sich das Prüfungsamt einmischt in die Vorbereitung der Prüflinge, die schließlich bei den Oberlandesgerichten ihr Examen ablegen, wird auch unterbunden – dies ist Sache der Gerichte. Die Leiter der Referate, die im Prüfungsamt zuständig sind, sollen zudem alle paar Jahre eine andere Aufgabe in der Behörde übernehmen – und schließlich werden die Klausuraufgaben in geschlossenen Behältern aufbewahrt, bevor die Prüfung beginnt – unzugänglich für unbefugte Dritte. Das ist viel. Ist es auch genug?

Der Abschluss der Juristenausbildung ist sonderbar: Alles ist auf die entscheidende Prüfung zum zweiten Staatsexamen ausgerichtet. Besteht man dort, ist es gut, besteht man nicht, können gleich viele Jahre intensiver Arbeit für die Katz gewesen sein. Ist das noch angemessen? Besser wäre es, auf dem Weg zur Prüfung Leistungen abzufragen, die in die Endnote einfließen können. Die Fixierung auf den Termin der Prüfung schafft gerade Abhängigkeiten und steigert Anfälligkeiten für Bestechung und Bestechlichkeit. Außerdem ist es ungerecht, weil die Fähigkeit zum Prüfungstermin nur begrenzt aussagekräftig ist über die Qualifikation eines Menschen.

Und dann ist da noch die Sache mit den Noten, kaum ein Jurist erhält besser als „vollbefriedigend“. Warum? Weil schon die Prüfer nicht besser benotet wurden und kein Jurist es übers Herz bringt, seine Schüler besser zu bewerten als seine eigene Leistung? Der Effekt ist, dass das gesamte System als überaus streng und auch ungerecht wahrgenommen werden muss, der Druck auf die Juristen scheint unendlich stärker zu sein als der auf die Absolventen anderer Disziplinen. Die kriminelle Energie eines Jörg L. ist da eben nur ein Teil des Problems, gegen diesen hat man sich offenbar gut abgeschottet. Aber was ist mit den anderen Aspekten? Sie sind seit vielen Jahren unverändert. Dabei ist die Generalreform überfällig.