Berlin macht’s möglich: Plötzlich schwimmt Niedersachsens Landesregierung im Geld

Die Botschaft der Berliner Chef-Unterhändler vom Abend des 4. März klingt wie eine Verheißung für die rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen: Der designierte Kanzler Friedrich Merz (CDU) und SPD-Chef Lars Klingbeil wollen noch im März den alten Bundestag über mehrere Grundgesetzänderungen abstimmen lassen. Dazu gehört die Lockerung der Schuldenbremse, ein 500-Milliarden-Programm für den Ausbau der Infrastruktur und die Aussage, neue Investitionen für die Landesverteidigung oberhalb eines bestimmten Betrages nicht mehr an die Schuldenbremse zu koppeln. Wenn Bundestag und Bundesrat dem zustimmen, vermutlich schon in der kommenden oder der übernächsten Woche, dürften diese Regeln schon bis zum Sommer in Kraft treten können. Im Ergebnis ihrer Sondierungen haben die Koalitionäre auch festgehalten, dass den Bundesländern eine jährliche Neuverschuldung von 0,35 des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zustehen soll. Dies wären umgerechnet für Niedersachsen rund 1,5 Milliarden Euro jährlich – ein riesiger Betrag, mit dem viele Haushaltssorgen des Landes auf einen Schlag zu beseitigen wären. Die Freude in der Landesregierung war am 5. März entsprechend groß.

Aber kommt das alles auch so? Viel spricht dafür, denn der Schock der jüngsten Ansagen von US-Präsident Donald Trump, die eine Abkehr der USA von der Nato wahrscheinlich werden lassen, zwingen in der EU zu drastischen Schritten. Eilig muss ein eigenes europäisches Verteidigungssystem aufgebaut werden, und dazu ist viel, viel Geld erforderlich. Zwar weht nun hierzulande vor allem dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz der Wind ins Gesicht. Im Wahlkampf hatte er zwar nicht ausgeschlossen, die Schuldenbremse zu lockern – aber er stellte das stets so dar, dass zunächst auch andere Möglichkeiten wie Einsparungen oder Umschichtungen genutzt werden müssten. Nun wirkt der Vorstoß der künftigen Koalitionäre so, als stellten sie eine kräftige Erhöhung der Verschuldung an den Beginn ihrer Arbeit. Das ist aber vor allem dem Umstand geschuldet, dass die verfassungsändernde Mehrheit von SPD, Grünen und CDU/CSU im alten Bundestag für die Reformen genutzt werden soll. Im neuen Bundestag, der Ende März oder im April zusammentritt, käme eine Zweidrittelmehrheit nur unter Beteiligung von AfD oder Linken zustande – und das wollen Union und SPD nicht. Also sollen jetzt schnell Fakten geschaffen werden.

Allerhand rechtliche Zweifel begleiten allerdings das neue Vorgehen. Da sind zum einen Verfassungsjuristen, die folgenden Umstand betonen: Wenn schon ein neuer Bundestag gewählt ist, dürfte ihrer Ansicht nach das alte, gerade abgewählte Parlament keine wegweisenden Beschlüsse mehr mit dieser Tragweite fassen. Das sei zumindest demokratietheoretisch fragwürdig, denn die Legitimität des alten Parlamentes sei im Moment der Neuwahl nur noch begrenzt. Andere Experten widersprechen: Der alte Bundestag sei bis zum Zusammentritt des neuen voll handlungsfähig – und außerdem gebe es äußere Umstände (die zwar schon befürchtete, aber jetzt erst richtig deutlich gewordene Abkehr Donald Trumps von der Nato), die schnelles und entschlossenes Handeln erfordern. Wie auch immer: Der neue Weg könnte später beispielsweise von der AfD beklagt werden – dann würde diese Rechtsfrage vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Aber bis zu einer solchen Entscheidung dürfte es Monate dauern.
Die rot-grüne Koalition in Niedersachsen zählt jedenfalls nicht zu denen, die nun verfassungsrechtliche Bedenken besonders hervorheben wollen. In einer ersten Stellungnahme begrüßte Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) die Festlegungen. „In Sachen Landesverteidigung wird von Tag zu Tag deutlicher, dass Europa und damit auch Deutschland wesentlich mehr Verantwortung übernehmen muss“, sagte er am Mittwoch. Er begrüße auch sehr das geplante Sondervermögen für die Infrastruktur. Was jetzt nur noch fehle, seien Schritte zur „Belebung wichtiger Wirtschaftsbereiche“. Was Weil nun nicht ausdrücklich sagt, aber gleichwohl ein großes Aufatmen in der rot-grünen Regierung ausgelöst hat, ist der folgende Umstand: Die Berliner Beschlüsse geben vermutlich eine Chance, dass die Landesregierung um geplante Kürzungen für den Etat 2026 und für die Haushalte der Folgejahre herumkommt. Weil höchstwahrscheinlich viel Geld aus Berlin auch in den Landesetat fließen wird, sind die Hilfen des Bundes großzügig – und der eigentlich von Finanzminister Gerald Heere (Grüne) gehegte Plan, in den nächsten Jahren die Rücklage des Landes von 2,5 Milliarden Euro für die Deckung der roten Zahlen anzutasten, kann in der Schublade bleiben. Vermutlich geht die Rechnung dann auch ohne die Rücklage auf. Bisher war vorgesehen, im nächsten Jahr 687 Millionen Euro davon einzusetzen, im Jahr 2027 sollten es 712 Millionen Euro sein, im Jahr 2028 dann 949 Millionen.
So verheißungsvoll die Nachrichten aus Berlin in Hannover angekommen sind, so hoch sind doch noch einige Hürden, die jetzt übersprungen werden müssen:

- Schuldenbremse: Wenn tatsächlich das Grundgesetz zügig mit der Mehrheit von Union, SPD und Grünen im Bundestag geändert werden sollte und auch der Bundesrat zustimmt, könnte ein Verschuldungsrecht der Länder für Niedersachsen nicht sofort in Kraft treten. Nötig wäre dazu noch die Änderung der Landesverfassung, denn diese enthält noch die alte Regel, nämlich das komplette Neuverschuldungsverbot: „Der Haushalt ist ohne Einnahme aus Krediten auszugleichen“, heißt es in Artikel 71, Absatz 2 der Landesverfassung. Ausnahmen sind demnach bisher nur bei Notlagen oder als Konjunkturausgleich zulässig. Sollte nun eine 0,35-Regel für die Länder ins Grundgesetz kommen, würde das für Niedersachsen eine jährliche Verschuldungsobergrenze von 1,5 Milliarden Euro (bisher: 0 Euro) bedeuten. Das gilt aber eben nur bei Änderung der Landesverfassung – und dafür müssten dann aber SPD, CDU und Grüne zustimmen – denn mit der AfD will niemand verhandeln. Ist das aber realistisch? In der CDU-Landtagsfraktion gibt es kritische Hinweise, dass zu viel Kreditverschuldung für staatliche Investitionen eher eine Inflationsgefahr nach sich ziehen würde. Dies eint die Finanzexperten Ulf Thiele und Reinhold Hilbers. Man brauche doch gar keine neuen Kredite, da die anderen Bundeszuschüsse, die aus der Einigung von Union und SPD in Berlin folgen, schon beträchtlich sind. Die CDU hat hier ihre Position allerdings noch nicht endgültig festgelegt.
- Bundeswehr: Die Absicht, die Verteidigungsausgaben außerhalb der Schuldenbremse-Regeln zuzulassen, könnte vor allem Niedersachsen begünstigen. Das Bundesland hat zum einen viele Bundeswehr-Standorte, außerdem müsste die Infrastruktur auf einen Verteidigungsfall vorbereitet werden – was Autobahnen, Straßen, Brücken und Häfen angeht. Auch Depots und Schutzräume gehören dazu. Über diesen Weg könnte es vor allem in Niedersachsen reichlich Investitionen geben. Manches Verkehrsprojekt könnte auch als Beitrag zur Steigerung der Verteidigungsfähigkeit eingestuft werden. Je mehr über diesen Weg festgelegt wird, desto mehr Geld bliebe aus dem ebenfalls geplanten „Sondervermögen Infrastruktur“ für andere Projekte.
- Infrastruktur: Das 500-Milliarden-Paket für die allgemeine Infrastruktur, das Merz und Klingbeil verkündet haben, soll ebenfalls Verkehrsinvestitionen begünstigen – daneben noch Krankenhäuser, Bildungseinrichtungen und Hochschulen. Für zehn Jahre sollen den Ländern und Kommunen 100 Milliarden Euro davon übertragen werden. Das würde bedeuten, dass aus diesem Topf jährlich 1 Milliarde Euro für Niedersachsen fließen dürfte. Das ist eine riesige Summe. Viel Geld könnte das Land für den Defizit-Ausgleich der Kliniken abzweigen und damit einer Hauptforderung der Kommunalverbände entgegenkommen. Der Niedersächsische Städtetag (NST) hat bereits gefordert, auch die Schulen und Kindergärten davon profitieren zu lassen – auch wenn das vermutlich weniger Investitionen sind und vielmehr Personalausgaben. Mit Spannung kann nun erwartet werden, wie die Vorschriften in den dafür nötigen Bundesgesetzen sein werden – und wie groß die Möglichkeiten für Länder und Kommunen sind, die erwarteten Zuschüsse einzusetzen.
- Skepsis in der Wissenschaft: Die Wirtschaftsprofessorin Veronika Grimm hat bereits gewarnt: Je mehr Möglichkeiten zur Verschuldung eingeräumt werden, desto geringer werde der Druck der neuen Bundesregierung, teure und komplizierte Strukturen abzuschaffen, Verfahren zu vereinfachen und unnütze Vorschriften zu reformieren. Die überfällige Modernisierung, auch der Wirtschaft, werde dadurch ausgebremst. In Niedersachsen wird auch der frühere Finanzminister und CDU-Landtagsabgeordnete Reinhold Hilbers zu diesen Skeptikern gezählt. Nicht wenige Kritiker meinen, dass das viele Geld aus Krediten, das der Staat jetzt investieren will, die Volkswirtschaft zu stark in Beschlag nimmt, die Preise in die Höhe treibt und damit Investitionspläne der freien Wirtschaft eher blockiert werden. Eine zu hohe Staatsquote würde alles andere als belebend wirken.
- 2,5 Milliarden Euro jährlich mehr für Niedersachsen? Wenn alles so kommt, wie es der Plan der Unterhändler in Berlin vorsieht, könnte das jährlich 2,5 Milliarden Euro mehr Einnahmen für Niedersachsen nach sich ziehen – 1,5 Milliarden Euro an möglicher Neuverschuldung, die bisher untersagt war, außerdem eine Milliarde Euro aus dem Sondervermögen für Infrastruktur. Daneben kämen noch die Verteidigungsausgaben, die über den Bund abgewickelt werden und die sich vorwiegend in militärisch wichtigen Gebieten Niedersachsens verwirklichen könnten.
Dieser Artikel erschien am 06.03.2025 in der Ausgabe #044.
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