Uni Hannover hat Profil im Sozialrecht entwickelt
Die Juristische Fakultät der Leibniz-Universität Hannover hat in den vergangenen Jahren ein Profil im Sozialrecht entwickelt – eine Profession, die es nach Ansicht von Uni-Präsident Volker Epping, selbst Jurist, gegenwärtig schwer hat: „Sozialrecht ist aus dem Studienalltag mittlerweile verbannt worden.“ Aber die Professorin Frauke Brosius-Gersdorf und ihr Kollege Professor Hermann Butzer pflegen dieses Themenfeld. Beim ersten „Hannoverschen Sozialrechtstag“ haben sie am Donnerstag die verschiedenen Facetten dieses besonderen und für die Gesellschaft immer wichtigen Sektors diskutiert: Wie kann der Staat die soziale Absicherung der Menschen garantieren, wenn die Rolle des Arbeitnehmers, der in der klassischen Vorstellung ein abhängig Beschäftigter eines großen, mittleren oder kleinen Unternehmens ist, nicht mehr der Wirklichkeit entspricht? Die Antwort liegt nah: Auch die Selbstständigen, die als „Crowdworker“ oder Online-Zuarbeiter tätig sind, sollen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müssen und so Rentenansprüche erwerben. Aber wie kann das funktionieren, wenn viele doch dafür kaum das nötige Geld haben dürften? Das mahnende Beispiel Krankenversicherung hat Brosius-Gersdorf vor Augen: Vor Jahren wurden die Selbstständigen zur Beteiligung verpflichtet – aber dann stauten sich enorme Rückstände bei den Beitragszahlungen auf, sodass die Beitragssätze zu Beginn dieses Jahres halbiert werden mussten.Düstere Aussichten vom Präsidenten des Bundessozialgerichts
Wie lassen sich unter diesen Bedingungen die Renten für Solo-Selbstständige organisieren? Düstere Aussichten gibt zunächst Prof. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts: „In wenigen Jahren müssen zwei Erwerbstätige einen Rentner finanzieren. Und wir haben in der Bundesrepublik kein Programm, wie wir mit der demographischen Entwicklung umgehen sollen.“ Nachhaltigkeit, der Blick auf die Folgen für die Zukunft, werde in der Ökologie und beim Klimaschutz derzeit groß geschrieben – aber in der Sozialpolitik völlig ausgeblendet. In der deutschen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung würden jährlich 648 Milliarden Euro umgesetzt – das seien elf Milliarden Euro mehr als das gesamte Steueraufkommen von Bund, Ländern und Gemeinden.
Es darf nicht im Belieben des einzelnen stehen, die Vorsorge für das Alter irgendwann einzustellen.
Wenn nun noch die Digitalisierung zu neuen Ansprüchen an die Sozialkassen führe, bringe dies „das System an den Rand seiner Überzeugungskraft“. Schlegel wirbt dafür, ausnahmslos alle Selbstständigen in die Rentenversicherung einzubeziehen. Ohne eine staatliche „Anschubfinanzierung“ werde das nicht gehen – denn viele kleine Selbstständige wären sonst rasch mit den Beitragspflichten überfordert. Die etwa von der FDP und vom Wirtschaftsflügel der Union verbreiteten Einwände, man solle auch Vermögen anrechnen und so der Beitragspflicht entgegen können, sieht der Präsident des Bundessozialgerichts skeptisch: „Es darf nicht im Belieben des einzelnen stehen, die Vorsorge für das Alter irgendwann einzustellen.“
Wie ausgeprägt ist der Wandel der Arbeitswelt?
Aber wie ausgeprägt ist der Wandel in der Arbeitswelt bereits? Brosius-Gersdorf berichtet, dass in Deutschland schon heute „jeder vierte Beschäftigte abends oder am Wochenende“ arbeitet, dass der ständige Wechsel von Festanstellungen und Honorartätigkeiten für viele zum Alltag gehört und dass nach einer DIW-Untersuchung ein Drittel der Solo-Selbstständigen (also denen, die selbst keine Arbeitnehmer beschäftigen) ein monatliches Einkommen von nicht einmal 1100 Euro haben. 1996 gab es in der Bundesrepublik 3,4 Millionen Selbstständige, bis zum vergangenen Jahr ging die Zahl auf 4,1 Millionen in die Höhe. 70 Prozent von ihnen zahlen nicht in die Rentenversicherung ein, sind also für das Alter vermutlich nicht abgesichert. Hinzu kommt noch, dass die rechtliche Situation jener Arbeitnehmer in den Zeiten der Digitalisierung, die früher ein ordentliches Anstellungsverhältnis hatten, auch problematisch werden kann: Das Bundesarbeitsgericht sehe den Status der Betriebszugehörigkeit nämlich nur als gegeben an, wenn ein Mindesteinsatz an Arbeitszeit für das Unternehmen nachgewiesen werden kann. Das kann im Einzelfall bedeuten, dass Mitarbeiter unter den neuen Bedingungen auch rechtlich in der Luft hängen.