Kommentar: Wir müssen über Gerhard Schröder reden
Liebe Leserinnen und Leser,
jeder Mensch kann sich irren – und bei manchen dauert die Erkenntnis länger als bei anderen. Dieses Recht muss auch Politikern und früheren Politikern zugestanden werden. Aber wie ehrlich vollzieht jemand eine Kehrtwende, wie glaubwürdig agiert er dabei? Das kann man im Moment der Wende selbst oft gar nicht beurteilen, sondern erst Wochen und Monate später. Ob also die breite Mehrheit im Bundestag aus SPD, Grünen und FDP hier, CDU und CSU dort, tatsächlich jetzt alle Kräfte auf die Landesverteidigung setzt und den Schutz vor aggressiven Bedrohungen von außen, bleibt offen – auch wenn es am Sonntag im Parlament noch ziemlich klar klang. Aber in vier Wochen, in vier Monaten, wenn der Alltag einzieht? Wir werden sehen.
Auch eine Reihe ehemaliger Politiker, die sich jahrzehntelang nicht nur ideell für die guten Beziehungen zu Russland eingesetzt hatten, haben in den vergangenen Tagen eine Kehrtwende vollzogen. Christian Kern (SPÖ) etwa, Altkanzler aus Österreich. Matthias Platzeck (SPD), einstiger Ministerpräsident von Brandenburg, oder Heino Wiese (SPD), ehemals Bundestagsabgeordneter aus Hannover. Sie räumten Fehler und Irrtümer ein. Wie glaubwürdig sind sie, wenn sie sagen, es täte ihnen leid? Taktieren sie oder bereuen sie ernsthaft ihr Verhalten? Wir werden es erst in einigen Monaten wissen. Ein Politiker hat bis Montagabend keine Konsequenzen gezogen, auch wenn der Druck von Parteifreunden auf ihn beständig zunimmt: Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) aus Hannover. Er behält seine Aufsichtsratsposten bei russischen Gasfirmen und bei der Nord-Stream-Gesellschaft, er peilt offenbar auch weiter einen Aufsichtsratssitz bei Gazprom an.
Auch Gerhard Schröder muss sein Engagement in russischen Energieunternehmen beenden und damit die Anstrengungen der Bundesregierung und des gesamten Westens unterstützen.
Stephan Weil, Ministerpräsident Niedersachsens und SPD-Landeschef
In der SPD rumort es deshalb, jeden Tag ein bisschen lauter. Was tun die Spitzen? Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil forderte am vergangenen Sonnabend, Schröder müsse „sein Engagement in russischen Energieunternehmen beenden“. Drei Absätze hatte Weils Erklärung, der entscheidende Satz stand am Ende des zweiten Absatzes. Die Erklärung begann mit den Worten: „Gerhard Schröder hat sich große Verdienste für Deutschland und Niedersachsen erworben.“ Aha. Und Rolf Mützenich, der SPD-Fraktionschef im Bundestag? Er sagte am Sonntag im Fernsehen: „Ich habe auch schon eine Erwartung geäußert, dass sich Gerhard Schröder in dieser Zeit vor dem Hintergrund eines befohlenen Angriffskrieges durch Putin auch zu diesem Schritt entschließen (werden) könnte.“
„Entschließen könnte“? „Große Verdienste“? Klar, dass es der SPD-Prominenz schwer fällt, ihrem Genossen Gerd klar die Meinung zu sagen – zumal sein Kurs über Jahre zur DNA großer Teile der SPD passte: eine Annäherung an Moskau auch als bewusste Distanzierung zu Washington, eine Fortsetzung der „Wandel durch Annäherung“-Politik von Egon Bahr, verknüpft mit pazifistischen Strömungen, wie sie in der deutschen Linken seit Generationen vorhanden sind. Auch Stephan Weil stützte, lange genug, diese von Schröder geprägte Linie. Das mochte noch bis zum 24. Februar vertretbar erscheinen, bis dahin konnten alle noch vorgeben zu glauben, Putins Rhetorik diene „nur“ der Einschüchterung oder gar der Stärkung von Verhandlungsbereitschaft. Seither ist klar, dass Wladimir Putin ein Kriegstreiber und Aggressor ist, der alle Mittel und auch das Morden einsetzt, seine Ziele zu erreichen – und ein Mittel davon ist die Energiepolitik. Dass die Gazprom-Gasspeicher in Deutschland leer sind, halten manche Beobachter für eine gezielte Folge der Putinschen Politik: Leere Speicher schüren Ängste der Deutschen, ängstliche Deutsche könnten davor zurückschrecken, sich seinem Großmachtstreben in den Weg zu stellen.
Wenn aber die Energiepolitik tatsächlich zu Putins Kriegswerkzeugen zählt, dann gehört Gerhard Schröder zu denen, deren Namen auf der Werkzeugkiste stehen. Will der Altkanzler sich tatsächlich in einem Atemzug mit den Kriegsherrn nennen lassen? Er hätte längst diese Ämter niederlegen müssen, aus Gründen der eigenen Achtung und aus seiner Verpflichtung Deutschland gegenüber. Nur seine unerschöpfliche Arroganz und Überheblichkeit bewahrten ihn bisher davor – nämlich der Schröder-Schwur, der seit vielen Jahrzehnten gilt und den der Autor dieser Zeilen schon vor 25 Jahren gehört hat: Ein Gerhard Schröder handelt nie unter Druck, er lässt sich nie treiben. Er lässt sich auch von niemandem etwas vorschreiben. Jetzt indes, soviel ist sicher, hat er den Zeitpunkt des sauberen Abgangs längst verpasst. Wenn er in einigen Tagen mit einer großen Geste die Dienste bei Putin beendet, womit zu rechnen ist, wird es für seinen guten Ruf zu spät sein.
Und die schönen Erklärungen von Weil, Mützenich und anderen, die sich immer erst vor den „großen Verdiensten“ Schröders verneigen, um dann umständlich oder verkniffen einen Ratschlag hinterherzuschieben? Sie sollten eines wissen: „Unwürdig“ ist nicht die Kritik an diesem Altkanzler, dessen Agieren über viele Jahre hinweg viel zu milde beurteilt worden ist, unwürdig ist das Verhalten von Schröder selbst. Es wird Zeit, das auch so auszudrücken.
Ich wünsche allen Lesern einen friedvollen Tag,
Klaus Wallbaum
Karrieren, Krisen & Kontroversen
Meilensteine der niedersächsischen Landespolitik
Jetzt vorbestellen