„Wir müssen etwas gegen die Verrohung der Gesellschaft tun“
Generalleutnant Carsten Jacobson, als Kommandeur Einsatz im Kommando Heer einer der ranghöchsten Soldaten in Deutschland, wirkt seit Jahren an einem Geschichtsprojekt von Gewerkschaften, Arbeitgebern, jüdischer Gemeinde und Historikern mit. Der neue Band „Oktober 1918 bis Februar 1919: Europa, Menschen, Toleranz“ (ISBN 978-3-932082-51-1) liegt jetzt vor. Im Interview mit Klaus Wallbaum äußert sich der General zu seinen Motiven:
Rundblick: Herr Jacobson, Sie sind als stellvertretender Heeresinspekteur beruflich stark gefordert – trotzdem wirken Sie seit Jahren an einem historischen Projekt in Hannover mit, das sich dem Ersten Weltkrieg, seinen Ursachen und Folgen widmet. Was treibt Sie dazu an?
Jacobson: Mir geht es nicht um Zahlen und Daten über militärische Entwicklungen – sondern über Hintergründe und Zusammenhänge. Im Ersten Weltkrieg gab es ein völliges Zerbrechen der militärischen Planung an der Realität. Zu Beginn des Jahres 1918 herrschte nicht nur bei der Obersten Heeresleitung, sondern auch bei den Menschen das sichere Gefühl, den Krieg gewinnen zu können – die Amerikaner waren noch nicht so weit mit einer Kriegsbeteiligung, die Russen schienen durch die Oktoberrevolution rausgebrochen, es gab Geländegewinne auf dem Balkan und man hörte von Meutereien bei der französischen Armee. Dass dann die deutsche Offensive scheiterte und die Alliierten einen rapiden Vorstoß bis nach Belgien führen würden, galt für viele als unvorstellbar. Umso größer war die Bereitschaft, an eine Dolchstoßlegende zu glauben – die fehlende Unterstützung in der Heimat als Grund für eine militärische Niederlage. Diejenigen in der Militärführung, die es besser hätten wissen müssen, bedienten sich dieser These.
Rundblick: Mit welchen Folgen?
Jacobson: Was mich bis heute beschäftigt, ist die Verrohung der Gesellschaft. Aus den zurückkehrenden Soldaten wurden nahtlos Mitglieder der Schlägertrupps aller Richtungen, ob rechts- oder linksradikal. Sie agierten enthemmt und abgestumpft, und sie verspürten keine Skrupel, vor politischen Morden zurückzuschrecken.
Rundblick: Sehen Sie Parallelen zu heute?
Jacobson: Viele Menschen im Irak und in Syrien müssen die Grausamkeit des Krieges heute erleben, sie erleiden posttraumatische Belastungsstörungen. So etwas muss man behandeln. Nach dem Ersten Weltkrieg hat man sich in Deutschland nicht um diese Menschen gekümmert – und das führte sie über die Freicorps direkt in die SA und den Rotfrontkämpferbund. Wir wissen heute, dass zehn bis 15 Prozent derer, die die Brutalität des Krieges erleben mussten, psychisch belastet sind. Wenn die Verwundungen der Seele nicht behandelt werden, führt das zur Verrohung der Gesellschaft. Ob es in Afghanistan ist, im Irak oder in der Ost-Ukraine.
Rundblick: Wie äußert sich das?
Jacobson: In dieser Woche werde ich wieder in Afghanistan sein, und ich weiß jetzt schon, was mich da erwartet. Ich werde nacktes menschliches Elend sehen, jede Menge Gewalt im Alltag – da kriechen die Menschen über die Straßen und betteln, sie schlagen ihre Haustiere, sie rempeln andere Leute an – und sie schrecken vor Tötungen nicht zurück.
Rundblick: Wenn Soldaten von Auslandseinsätzen zurückkehren nach Deutschland, können sie dann über diese Erlebnisse reden?
Jacobson: Häufig genug finden sie kein Gehör – und wundern sich über die vermeintlich so großen Alltagsprobleme in Deutschland: dass der Zug nicht pünktlich fährt, dass die Wartezimmer so voll sind. Viele Soldaten haben dann das Gefühl, dass die Menschen in Deutschland nicht verstehen oder nicht wissen wollen, was in der Welt passiert.
Rundblick: Deshalb halten Sie ein Plädoyer für mehr Interesse an der Weltpolitik?
Jacobson: Der Sinn des Buches ist, ein Achtungssignal zu geben: Passt auf, das können die Folgen sein, wenn man wichtige Dinge nicht beachtet. Es kommt eben darauf an, all jene, die nach Kriegserlebnissen unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, auch zu behandeln.
Rundblick: Gibt es Formen von Verrohung auch in Deutschland?
Jacobson: Ja – wir müssen zum Beispiel vorsichtig sein, wenn gewaltbereit für den Frieden demonstriert wird. Einige Gruppen meinen, für sich selbst die Gewalt als Mittel rechtfertigen zu müssen. Das kann ich nicht akzeptieren. Das Gewaltmonopol des Staates muss garantiert werden, und die abnehmende Hemmschwelle gegenüber der Gewalt – ob bei den Linksautonomen, die immer wieder in Göttingen aktiv werden, oder bei rechtsextremen Gruppen in Sachsen. Wir müssen uns auch um die Menschen bemühen, die zu uns geflohen sind und unbeschreibliches Leid in ihrem Bürgerkrieg erlebt haben. Das Problem ist, dass ganz viele von ihnen vermutlich bestreiten werden, unter einer posttraumatischen Störung zu leiden. Hier müssen nicht nur die Therapieangebote besser werden, auch die Forschung ist gefordert, sich mit dem Thema noch stärker auseinanderzusetzen.