„Wir brauchen wieder den Aufbruch, den wir vor 30 Jahren in Deutschland erlebt haben“
Eine kleine Episode hat Karl Gerhold parat, heute als Chef der Getec-Energieholding einer der erfolgreichsten Unternehmer in Ostdeutschland. Als 1990 das Land Sachsen-Anhalt gegründet wurde, war er der erste Leiter der Staatskanzlei unter dem damaligen Ministerpräsidenten Gerd Gies.
Gerhold, der aus Niedersachsen stammt, besuchte seinerzeit südlich von Magdeburg das „KIM“, das frühere „Kombinat industrielle Mast“. Waren die dort aufgezogenen „Goldbroiler“ zu DDR-Zeiten noch gefragt, so wollten die Ostdeutschen in den ersten Jahren nach dem Fall der Mauer nur noch Westprodukte verspeisen.
Was tat der Mann, der das alte KIM damals übernommen hatte? Er nahm Kontakt zu einem westdeutschen Partner auf und bestellte bei ihm neue Verpackungen. So wurde aus den „Goldbroilern“ über Nacht „Brathähnchen“ – und der Verkauf ging wieder los, denn das West-Geflügel war damals bei den Leuten gefragt.
Das ist eine von vielen Erfolgsgeschichten aus der sogenannten „Wendezeit“, den ersten Jahren nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland. Und die Lehre lautet: Mit Pfiffigkeit und Einfallsreichtum schaffen die Leute es schon, unter den schwierigsten Bedingungen etwas auf die Beine zu stellen.
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Wenn das zu Zeiten des größten wirtschaftlichen Umbruchs möglich war, rund um die Wiedervereinigung, wie wird es denn heute sein, angesichts großer Herausforderungen und neuer, diesmal globaler Umbruchsituationen? Dazu hatte Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) für gestern Nachmittag zu einer Podiumsdiskussion eingeladen – mit Gerhold, dem Ost-Unternehmer, und Dagmar Schipanski, der Thüringer Wissenschaftlerin und ehemaligen Kandidatin für das Bundespräsidentenamt. Holger Stahlknecht, der Vorsitzende der CDU-Sachsen-Anhalt, war kurzfristig entschuldigt.
Wir brauchen die Rückkehr zu den Anfangsjahren der deutschen Einheit und den vereinfachten Regeln, die damals galten.
Die These, die Althusmann in den Mittelpunkt stellte, klingt demonstrativ: „Wir brauchen die Rückkehr zu den Anfangsjahren der deutschen Einheit und den vereinfachten Regeln, die damals galten. Wenn wir heute wieder die Planungen für Großvorhaben um drei bis fünf Jahre verkürzen könnten, dann können wir mit anderen mithalten. Wenn nicht, dann werden wir abgehängt sein in Deutschland.“
Treuhandanstalt habe segensreich gewirkt
In der Diskussionsrunde wird an diesem Punkt rasch eine Einigkeit hergestellt: Die Treuhandanstalt, die damals die Privatisierung der DDR-Staatswirtschaft regeln sollte, habe im Großen und Ganzen segensreich gewirkt – aller rückblickenden Kritik aus der politischen Linken zum Trotz. Dass für die Ost-Firmen die Märkte im Ostblock wegfielen, hätte niemand ahnen können.
„Man hätte damals nur die Auflagen der Treuhand, mehr Arbeitsplätze zu sichern, beachten müssen. Aber das waren eben sehr schnelle Zeiten und die gesetzlichen Vorgaben waren nicht perfekt“, sagt Schipanski. Trotzdem sei die wirtschaftliche Entwicklung seit 1990 eine Erfolgsgeschichte – vor allem verglichen mit der staatlichen Planwirtschaft zu DDR-Zeiten.
„Es gab vor 1989 keinen Wettbewerb, kein Privateigentum, keine stabile Währung. Deshalb gab es nur Mangelwirtschaft und keinerlei Fortschritt. Die Städte waren dem Verfall preisgegeben“, sagt Schipanski. Gerhold ärgert sich über „verzerrte Darstellungen“ und eine Verklärung der DDR in vielen aktuellen politischen Debatten: „In Magdeburg zahlt man eine Miete, die ein Drittel der Miete von München beträgt. Viele junge Leute arbeiten hier und nutzen ihre Möglichkeiten. Es gibt keinen Nachteil, wenn man im Osten lebt.“
Verwaltung hat sich zum Nachteil entwickelt
Aber umso mehr teilt Gerhold die Botschaft von Althusmann: Das Problem seien nicht die Unternehmer, ihre Ideen und Initiativen. Davon gebe es schon genug. Aber die staatliche Verwaltung habe sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr zum Nachteil entwickelt.
Zum Beispiel im Energiebereich, in dem Gerholds Unternehmen aktiv sind: „Als ich noch in den achtziger Jahren in Hannover mit dem Thema befasst war, reichten Vorschriften von 30 Zentimetern Umfang. Heute brauchen wir für die nötigste Fachliteratur ganze Bibliotheken. Vieles von den Vorschriften ist dazu noch widersprüchlich und lähmt die Initiative. Dabei ist in der sozialen Marktwirtschaft eigentlich gedacht, nur den Rahmen vorzugeben und den Rest den Unternehmen selbst zu überlassen. In der Wirklichkeit versucht die Politik, alles möglichst genau im Detail zu bestimmen.“
Bei Althusmann, der seit langem eine Vereinfachung der Vorschriften predigt, rennt Gerhold damit offene Türen ein – und bei Schipanski ebenso. Sie empfindet es beispielsweise als abschreckend, dass für die Gründung von Startups in jedem Bundesland andere Vorgaben bestünden. Eine Angleichung sei hier doch überfällig.
Wirtschaftliche Veränderung schürt Ängste im Osten
Aber wenn nun Althusmann, Gerhold und Schipanski sich gewissermaßen 30 Jahre zurücksehnen in die Aufbruchszeit der ostdeutschen Revolution und später folgenden Wiedervereinigung, wie verträgt sich dieses mit der kritischen Distanz, die derzeit viele Menschen im Osten gegenüber dem politischen System und den etablierten Parteien ausdrücken? Wie ist dann der hohe AfD-Anteil bei den dortigen Wahlen zu erklären?
Niedersachsens Wirtschaftsminister sieht als eine Erklärung die Verunsicherung, die mit dem wirtschaftlichen Wandel einhergeht: Man wolle von der Kohle Abschied nehmen, ohne schon eine ausreichend gesicherte Alternative für die Energieversorgung zu haben. Man fördere die Herstellung von E-Autos, ohne zu wissen, ob diese wirklich die richtige Fahrzeugform der Zukunft seien. Man rufe nach Subventionen für alle möglichen Dinge, ohne zu beachten, dass der Staatsetat nicht unerschöpflich sei.
Althusmann sieht einen Ansatz zur Lösung auch hier in der sozialen Marktwirtschaft, nämlich in der Losung „Der Schwache hilft dem Starken“. Wenn sich viele Menschen gerade in Ostdeutschland abgehängt und vernachlässigt fühlten, dann sei hier eben Hilfe und Unterstützung nötig. Nicht vorrangig materiell.
Dass wir diese Bilder von damals nicht vergessen, ist für mich ein wichtiges Anliegen.
Ein Beitrag dazu soll nach Ansicht des Wirtschaftsministeriums die Erinnerung an die Revolution von 1989 sein, die den Menschen in der DDR zu verdanken sei. „Dass wir diese Bilder von damals nicht vergessen, ist für mich ein wichtiges Anliegen“, betont Althusmann. Vielleicht gilt das umso mehr, als der niedersächsische Landtag bisher noch nicht angekündigt hat, eine eigene Gedenkveranstaltung zum 30. Jahrestag des Mauerfalls anzubieten. (kw)