9. Mai 2023 · Wirtschaft

Wilhelmshaven in Aufbruchstimmung: „Wir werden Hauptstadt für grüne Energie“

Der Energiehunger der deutschen Industrie ist gewaltig. Schon jetzt verbraucht das produzierende Gewerbe über eine Billiarde Kilowattstunden pro Jahr – das ist eine Zahl mit 15 Nullen. Allein mit erneuerbaren Energien aus dem Inland ist dieser Bedarf auf absehbare Zeit nicht zu decken. „Für eine CO2-neutrale Energieversorgung müsste Deutschland 50 Prozent des Energiebedarfs importieren – das allermeiste davon per Schiff“, rechnet Alexander Leonhardt vor und sieht hier riesige Chancen für seine neue Wahlheimat an der Nordseeküste.

Wollen Wilhelmshaven zur Drehscheibe für grüne Energie machen (von links): Torsten Hooke, Thomas Hohmann, Achim Schillak, Julia Grebe von Uniper und Wirtschaftsförderer Alexander Leonhardt. | Foto: Link

Der gebürtige Thüringer hat seinen Job als Amtsleiter für Zentrale Dienste in Gera hinter sich gelassen, um einen der wohl spannendsten Jobs der Energiewende zu übernehmen: Leonhardt leitet seit Juli 2021 die Wirtschaftsförderung in Wilhelmshaven. In dieser Position will er in den nächsten Jahren die strukturschwache Mittelstadt auf dem Weg zur „Hauptstadt für grüne Energie“ begleiten. „Der Import über den Hafen und die Produktion vor Ort werden bis zu 50 Prozent des deutschen Wasserstoffbedarfs im Jahr 2030 abdecken“, sagt Leonhardt.

Die Investoren stehen schon Schlange und werden sogar immer zahlreicher: In der Interessensgemeinschaft „Energy Hub Port of Wilhelmshaven“ haben sich bereits 35 Unternehmen vom internationalen Stahlgiganten ArcelorMittal über Eon, RWE, Rhenus, Salzgitter AG und Tennet bis hin zum Gas- und Ölproduzenten Wintershall Dea zusammengefunden. Der französische Energieriese Engie und BP warten gerade auf ihre Aufnahme. „Der Energy Hub ist ursprünglich aus der Enttäuschung heraus entstanden, dass sämtliche Fördermittel an der Region vorbeigeflossen sind. Inzwischen ist daraus eine richtige Lawine entstanden“, sagt Leonhardt. Allein an der Hafenkante der Marinestadt sollen bis 2030 mindestens 16 Projekte für klimaneutrale Energie umgesetzt werden – vorausgesetzt, die Politik schafft die richtigen Rahmenbedingungen. Fünf weitere Vorhaben sind im Süden der Stadt geplant – im „Grünen Synergiepark Friesland“ sowie in der Kavernen-Speicherstätte Etzel.

An der Hafenkante beim Jade-Weser-Port ist noch viel Platz für Industrie- und Gewerbeansiedlungen frei. | Foto: Link

Für Wilhelmshaven spricht vor allem seine geografische Lage. Deutschlands einziger Tiefwasserhafen ist auch für große Schiffe leicht erreichbar und hat einen direkten Zugang zu den Offshore-Windparks in der Nordsee, was wiederum für die Umwandlung von Strom in Wasserstoff einen elementaren Vorteil darstellt. Ein anderes Alleinstellungsmerkmal ist unterirdisch zu finden: Mit dem Kavernenfeld Etzel befindet sich in der Region der größte Gasspeicher Deutschlands. 75 Kavernen werden aktuell genutzt, ausgebaut werden könnte auf 99 Kavernen.

Darüber hinaus hat die Stadt im Norden riesige Industrieentwicklungsflächen, die Anfang der 1970er-Jahre durch einen Deichbau dem Meer abgetrotzt wurden. Mehrere Hundert Hektar Bauland stehen allein am Jade-Weser-Port zur Ansiedlung von Industrie und Gewerbe bereit. Dazu kommt das riesige Areal der Deutschen Flüssiggas Terminal Gesellschaft (DFTG), auf dem schon vor 50 Jahren die Speicherung und Wiederverdampfung von verflüssigtem Erdgas (LNG) in Wilhelmshaven geplant war.

Technik trifft Natur: Schafe grasen auf einer Wiese vor dem LNG-Terminal Wilhelmshaven, an dem die "Höegh Esperanza" festgemacht hat. | Foto: Link

Durch den Bau eines LNG-Terminals für die schwimmende Speicher- und Verdampfungseinheit (FSRU) „Höegh Esperanza“ hat sich das jedoch nun endgültig erledigt. „Das FSRU liegt auf dem Wasser und nimmt keinen Platz weg. Wir können uns also auf dem DFTG-Gelände frei entfalten“, sagt Achim Schillak, der beim mittlerweile verstaatlichten Energieunternehmen Uniper für die Entwicklung von Wasserstoff-Projekten zuständig ist. Zusammen mit dem Gelände rund ums ehemalige Kohlekraftwerk stehen Uniper insgesamt 200 Hektar zur Verfügung. Theoretisch wäre auf dem Groden (so nennt man das aufgeschwemmte Deichland) sogar noch mehr Industriefläche möglich, wenn man das Naturschutzgebiet Voslapper Groden-Nord wieder seinem ursprünglichen Zweck zuführen würde: Das 267 Hektar große Schutzgebiet zwischen dem Vynova-Chemiewerk und der HES-Raffinerie war eigentlich für die Industrie gedacht, bevor sich die Natur die brachliegende Fläche zurückeroberte.

Ursprünglich sollte auf diesem Areal ein stationäres LNG-Terminal gebaut werden. Realisiert wurde aber nur der Pipeline-Anschluss für die „Höegh Esperanza“. Der Rest der Fläche steht für Industrieprojekte zur Verfügung. Im Hintergrund ist das Vynova-Werk zu sehen. | Foto: Link

Die meisten Projekte im Energy Hub drehen sich um die Herstellung von Wasserstoff durch Elektrolyse. Neben EWE, RWE und Uniper haben auch die Unternehmen TES, Friesenelektra, „First Ammonia“, „VoltH2“ und „Onyx“ entsprechende Absichten erklärt. Ebenfalls ein großes Thema ist das Einfangen und Speichern von Kohlendioxid (Carbon Capture and Storage), wozu in Wilhelmshaven zwei CO2-Terminals entstehen sollen. Und auch das Cracking von Ammoniak soll am Jadebusen stattfinden. „Ammoniak ist aus unserer Sicht das beste Trägermedium für Wasserstoff“, sagt Torsten Hooke, für den Kraftwerksstandort Wilhelmshaven und dessen Weiterentwicklung zuständig ist. Als eine der meistproduzierten Chemikalien der Welt ist Ammoniak schon jetzt in großen Mengen verfügbar und kann in Wasserstoff und Stickstoff aufgetrennt werden. Letzter könnte ohne Umweltschäden einfach in die Atmosphäre abgegeben werden oder bei Bedarf auch eine Wiederverwendung in anderen Prozessen finden.

„Wir wollen hier auch nicht alles zukleistern mit Elektrolyseanlagen und Umspannwerken. Das wird der Stadt und der Region nicht gerecht.“

Alexander Leonhardt, Wirtschaftsförderer

Für die Stahlherstellung lässt sich Ammoniak aber auch ohne Aufspaltung verwenden, wie Forscher des Düsseldorfer Max-Planck-Instituts für Eisenforschung kürzlich nachgewiesen haben. Das Verfahren hat neben einer Energieeinsparung von 18 Prozent sogar noch einen anderen Vorteil: Durch das Ammoniak bekommt das erzeugte Eisen eine schützende Schicht aus Eisennitrid, die beim Weitertransport vor Rost schützt. Gerade für kleinere Stahlunternehmen könnte sich dadurch die Möglichkeit eröffnen, über Wilhelmshaven die Herstellung von grünem Stahl anzukurbeln – etwa über ein Konsortium, das eine gemeinsame Anlage betreibt. Konkrete Pläne gibt es dazu aber noch nicht.

Als Alternative zum Wasserstoff hat Ammoniak allerdings auch einen Nachteil: Es ist giftig. Und selbst wenn man bei Uniper darin eher eine technische Herausforderung als ein Sicherheitsproblem sieht, ist man sich der Problematik wohl bewusst. „Das sind alles auch Störfallanlagen, die sich hier an der Küstenregion ansiedeln. Deswegen ist die Kommunikation so wichtig, um die Bürger für die Pläne abzuholen“, sagt Hooke. Auch Wirtschaftsförderer Leonhardt betont, dass der Energy Hub Wilhelmshaven mit Augenmaß geplant werden muss. „Wir wollen hier auch nicht alles zukleistern mit Elektrolyseanlagen und Umspannwerken. Das wird der Stadt und der Region nicht gerecht“, ergänzt Leonhardt.

Da wo keine Raffinerien oder Werkhallen stehen und auch keine Schafe weiden, hat die Natur viele brachliegende Industrieflächen am Voslapper Groden in Wilhelmshaven zurückerobert. | Foto: Link

Insbesondere das Thema Wasser sei für viele Bürger hochemotional besetzt. Sowohl die Entnahme und Entsalzung des Nordseewassers, aber auch die Regenrückhaltung und der Umgang mit dem Grundwasser würden von der Bevölkerung äußerst kritisch begleitet. Julia Grebe, die bei Uniper für den Kontakt mit Politik und Bürgern in Norddeutschland zuständig ist, setzt dabei auf Information und Dialog: „Je mehr wir uns auf den Weg machen, wird der Bevölkerung klar, was das für die Region bedeutet.“ Das sei zwar nicht immer mit positivem Feedback verbunden, trotzdem ist Grebe mit dem Ergebnis bisher zufrieden: „Es ist eine Region, die wirklich will. Man merkt hier eine Aufbruchstimmung.“



Akzeptanz ist aus Sicht der Planer nur dann möglich, wenn auch das Vertrauen in die Einhaltung von Naturschutzvorgaben da ist. „Es muss sauber gearbeitet werden. Man kann nicht alles mit Notstandsgesetzen durchpeitschen, aber trotzdem dürfte das alles ein bisschen schneller gehen. Den Behörden fehlt das Personal“, sagt Schillak. Er fordert deswegen mehr Flexibilität bei den Genehmigungen, aber auch klare Vorgaben von der Politik. „Es wartet gerade jeder auf den anderen. Ein bisschen mehr staatliche Steuerung würde vielleicht helfen. Auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette sind mutige Schritte erforderlich“, sagt der Uniper-Manager.

"In Wilhelmshaven wird etwas passieren"

Trotz aller Unwägbarkeiten ist er sich ganz sicher, dass der Energy Hub die Stadt Wilhelmshaven zum Positiven verändern wird. „Hier wird etwas passieren – selbst dann, wenn nur die Hälfte der geplanten Projekte stattfinden sollte“, sagt Schillak und fügt grinsend hinzu: „Wenn ich Geld hätte, würde ich jetzt anfangen, hier Wohn- und Bürogebäude zu bauen. Viele Leute werden hier hängen bleiben.“

Auch für Leonhardt steht fest, dass sich die Stadt in den nächsten Jahren fundamental verändern wird. Sorgen machen ihm dabei aber vor allem die begrenzten Kapazitäten beim Schienenverkehr und der Arbeitskräftemangel. Derzeit hat die Stadt noch eine Arbeitslosigkeit von 10 Prozent. Damit der Aufbau des Energy Hub gelingt, müssen jedoch viele qualifizierte Fachkräfte von außerhalb angelockt werden. Leonhardt: „Wir müssen es schaffen, dass Wilhelmshaven nicht nur als Energiedrehscheibe wahrgenommen wird. Wir müssen sichtbar machen, was diese Stadt noch so hat. Wir sind mehr als Energie und Logistik.“

Wilhelmshaven hat nicht nur Logistik und Energie zu bieten, sondern auch eine Kulturszene. Das Stadttheater befindet sich mitten in der City. | Foto: Link
Dieser Artikel erschien am 10.5.2023 in Ausgabe #085.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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