24. Juni 2025 · 
HintergrundKultur

Wieso Niedersachsens Abgeordnete meinen, gemeinsam ins Ausland reisen zu müssen

Spanien, Portugal, Norwegen oder Schottland: Bis Jahresende werden die Ausschüsse des Landtags an mindestens 36 Ziele im In- und Ausland gereist sein. Warum muss das sein?

Es ist schon ein paar Wochen her, da hat sich der Unterausschuss Medien des niedersächsischen Landtags in seiner Sitzung auf eine bevorstehende Reise vorbereitet: Fünf Tage London und Dublin. Die zuständige Ausschussbetreuerin aus der Landtagsverwaltung hat den Abgeordneten den aktuellen Stand der Reiseplanung noch einmal vorgestellt. Abflug, Treffpunkt, Gesprächspartner. Anschließend noch ein paar interne Abstimmungen: Wer reist eigenständig an? Richtet jemand eine WhatsApp-Gruppe ein? Und können die Gastgeschenke bitte auf mehrere Koffer aufgeteilt werden? Klassenfahrt-Stimmung im Landtag.

London und Dublin sind zweifellos schöne und auch spannende Reiseziele. Aber wieso muss ein Unterausschuss des niedersächsischen Landtags überhaupt das Land verlassen? Zunächst die formale, wenig differenzierte Antwort: Weil er es kann. Die gemeinsame Übereinkunft aller Fraktionen gesteht jedem Ausschuss in der laufenden Legislatur eine Reise ins europäische Ausland zu. Unberührt von dieser Regelung bleiben die offiziellen Sitze der Organe der Europäischen Union, also Brüssel, Straßburg und Luxemburg oder auch Den Haag. Dorthin sowie nach Berlin dürfen die Abgeordneten jederzeit fahren.

Knapp nach der Hälfte der laufenden Legislaturperiode haben fast alle Ausschüsse von ihrem Reiserecht Gebrauch gemacht – oder planen dies noch bis Ende des Jahres. Lediglich die Unterausschüsse Tourismus und Verbraucherschutz sind noch nicht weiter als bis nach Berlin, Köln oder Brüssel gekommen. Beim Spezial-Unterausschuss für die Prüfung der Haushaltsrechnungen ist wohl keine weitere Reise zu erwarten. Doch wie der niedersächsische Landtag auf Rundblick-Anfrage aufgeschlüsselt hat, wird das Parlament in unterschiedlicher Konstellation bis Ende des Jahres voraussichtlich 36 Destinationen erreicht haben. Am häufigsten die Koffer packen durften bislang die Abgeordneten des Europaausschusses. Dabei ging es allerdings zweimal nach Berlin und zweimal nach Brüssel, was das internationale Reisekontingent noch nicht berührt. Ungewöhnlich ist jedoch, dass die Europapolitiker bereits zwei ordentliche Auslandsreisen machen durften. Im Oktober 2023 ging es für sie nach Leeuwarden in den Niederlanden, wo sich die Abgeordneten mit Delegierten der niederländischen Nordprovinzen über Mobilität, Digitalisierung, Gesundheit und Energie ausgetauscht haben. Bei der zweiten Auslandsreise im März/April 2025 beschäftigten sich die Landespolitiker in Griechenland mit Themen wie Migration und Katastrophenschutz, der wirtschaftlichen Lage und Handelsbeziehungen aber auch mit der EU-Kohäsionspolitik.

Reiseziele niedersächsischer Landtagsausschüsse. | Foto: scibak via Getty Images/Grafische Darstellung: Rundblick

Den zweiten Platz der reisefreudigsten Landtagsausschüsse belegt der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Insgesamt fünfmal haben die Agrarpolitiker Hannover hinter sich gelassen, allerdings war auch hier Berlin ein besonders beliebtes Ziel. Die „Internationale Grüne Woche“ ist als Fachmesse für die Ernährungsexperten jedes Jahr ein fester Termin im Kalender. Die Fernreise führte die Parlamentarier im März 2024 derweil nach Spanien, wo es neben der Schweinefleischproduktion auch um das seltene Gut Wasser und die ausgefeilte Beregnungstechnik in trockenen Regionen ging. Ebenfalls nach Spanien fuhr kurz darauf im Mai 2024 der Wirtschaftsausschuss. Parallel dazu waren die Haushaltspolitiker in Vaduz, Bern und Rom. Im September des vergangenen Jahres reisten die Innenpolitiker nach Polen und die Sozialpolitiker nach Wien in Österreich. Der Unterausschuss Häfen und Schifffahrt fuhr im März 2025 nach Portugal, ebenso wie der Umweltausschuss gut zwei Monate später. Den Unterausschuss Medien zog es, wie eingangs beschrieben, im März nach Großbritannien und Irland, der Wissenschaftsausschuss reiste im März und April nach Schottland. Im Mai informierten sich die Rechtspolitiker des Landtags in Prag und Wien und erst am vergangenen Freitag sind die Kultuspolitiker aus Dänemark und Norwegen zurückgekommen. Im August will auch der Unterausschuss Justizvollzug nach Norwegen reisen, bevor er im September eine Nah-Reise in die emsländische Stadt Meppen antritt. Im September plant zudem der Petitionsausschuss eine Schottlandfahrt. Dabei soll es etwa um Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung im schottischen Regionalparlament gehen.

Gut 500.000 Euro haben die verschiedenen Reisetätigkeiten der Ausschüsse den Steuerzahler bislang gekostet, erklärte der Landtag auf Rundblick-Anfrage. In der Summe beinhaltet seien die wesentlichen Kostenblöcke wie Übernachtungskosten, Kosten der An- und Abreise, Transfers vor Ort, Dolmetscherkosten und Tagungsräume. Nicht beinhaltet in dieser Kostenübersicht seien die Tagegelder für die Abgeordneten sowie der Landtagsmitarbeiter, die auf den Reisen mit dabei sind. Wo es hingehen soll, entscheiden die Abgeordneten eigenverantwortlich. Auch über das Programm wird von den Fachpolitikern entschieden. Die Ausschussbetreuer bereiten das Reiseprogramm in der Regel in Zusammenarbeit mit der jeweiligen deutschen Botschaft vor. Formal genehmigen muss die Reise allerdings die Landtagspräsidentin, nachdem der Ältestenrat sein Votum abgegeben hat. Nur ein einziges Mal habe man einen Reisewunsch zurückweisen müssen, erinnern sich übereinstimmend die parlamentarischen Geschäftsführer Wiard Siebels (SPD), Volker Bajus (Grüne) und Carina Hermann (CDU). Nach einer Überarbeitung des Programmablaufs sei aber auch diese Reise dann genehmigt worden.

Natürlich müsse geprüft werden, ob Reiseziel und Reisekosten gerechtfertigt seien, sagt Carina Hermann (CDU) auf Rundblick-Anfrage. Schließlich werden die Ausschussfahrten aus Steuermitteln finanziert. Dennoch ist sie überzeugt: „Es ist sehr sinnvoll, dass Abgeordnete den Blick über den Tellerrand öffnen.“ So versteht sie auch die Südafrika-Reise ihrer CDU-Fraktion vor einigen Wochen. Mit der südafrikanischen Provinz Ostkap bestehe in diesem Jahr seit 30 Jahren eine Partnerschaft mit Niedersachsen. Partnerschaftsprogramme lebten schließlich auch vom Austausch vor Ort. Doch manchmal liegt die Erkenntnis auch in der direkten Nachbarschaft. So weist Hermann beispielhaft auf eine Reise des Rechtsausschusses nach Prag und Wien hin. Dabei sei es darum gegangen, wie die europäischen Nachbarn Digitalisierung und Datenschutz in der Justiz in Einklang bringen. Ein Thema, bei dem Niedersachsen noch etwas nachzuholen habe.

Wiard Siebels war schon lange nicht mehr mit einem Fachausschuss unterwegs. Der Ältestenrat sei naturgemäß nicht mit Reisetätigkeit verbunden, doch er erinnert sich noch gut an seine letzten Auslandsreisen als Fachpolitiker. Gut zehn Jahre muss es her sein, dass er sich als Mitglied des Agrarausschusses in Finnland über den Verzicht aufs Schwänze-Kupieren bei Schweinen und in Irland über die 300-tätige Weidezeit der dortigen Milchkühe informiert hat. „Diese Reisen sind anstrengend, aber haben tatsächlich auch einen Mehrwert“, ist Siebels überzeugt. Aus seiner Sicht werden Reisen dann genehmigt, wenn die Kosten nicht über dem Durchschnitt liegen, das Ziel erklärbar ist und das Programm bei der Draufsicht keine Widersprüche aufkommen lässt. Außerdem, berichtet Siebels, gibt es seit Jahren die Übereinkunft, dass Abgeordnete für ihre Reisen die Grenzen Europas nicht überschreiten müssen. Vor Jahren habe es einmal eine Reise nach China gegeben, erinnert sich der Sozialdemokrat. Das sollte heute nicht mehr sein. 2006 hatte die Reise des Landtagspräsidiums unter Leitung von Jürgen Gansäuer (CDU) in das ferne Reich kräftige Kritik ausgelöst.

Ähnlich sieht es Volker Bajus von den Grünen, der auch aus klimapolitischen Erwägungen Fernreisen kritisch beäugt. Doch manchmal findet er auch diese gerechtfertigt. Ihm selbst ist etwa noch eine Reise nach Israel in guter Erinnerung geblieben, bei der es eigentlich um Startups gegangen sei. Bei ihm habe die Erfahrung aber auch dazu geführt, dass sich sein Verständnis von dem „umzingelten Land“ und seiner Bedeutung durch die Strahlkraft einer liberalen Kultur auf die arabische Welt gewandelt habe. Entscheidend sei für ihn, dass die Reise inhaltlich gut begründet sein muss. „Eine Reise nach Japan finde ich schwierig“, sagt Bajus im Rundblick-Gespräch. Dass der Umweltausschuss vor etwa zehn Jahren einmal in die Vereinigten Staaten von Amerika gereist ist, fand er nur plausibel. Die großen Themen waren damals Fracking und die Endlagersuche – mit beiden deutschen Streitthemen haben die Amerikaner ihre ganz eigenen Erfahrungen gemacht.

Der Konsens über den Sinn von Auslandsreisen reicht auch bis zum rechten Rand des Parlaments. Das zeigt sich zum einen daran, dass die AfD-Abgeordneten stets mitreisen. Zum anderen erklärt Fraktionschef Klaus Wichmann auf Rundblick-Anfrage: „Es wäre falsch, alle Ausschussreisen abzulehnen.“ Da im Vorhinein oft nur schwer vorhersehbar sei, wie groß der Erkenntnisgewinn sein wird, schaue man in der AfD-Fraktion allerdings wegen der höheren Kosten besonders kritisch auf außereuropäische Reisen.

Zurück zum Unterausschuss Medien. Was haben die Abgeordneten mitgenommen aus London und Dublin? Fragt man die Ausschussvorsitzende Colette Thiemann (CDU), sprudelt es nur so aus ihr heraus. Bezüglich der Medienaufsicht spricht sie von einem Unterschied zwischen der Theorie und der Praxis, die man einmal gesehen haben müsse. Insbesondere vor dem Hintergrund des Brexits sei es wichtig, mit den Briten im Austausch zu bleiben und gleichzeitig die Iren daran zu erinnern, dass sie gegenüber den gut zahlenden Tech-Giganten EU-Regeln durchsetzen müssen. Thiemann fordert Mut und härtere Sanktionen, wenn Plattformen gegen hiesige Regeln verstoßen. „Wer bei uns Geld machen will, muss sich auch an unsere Regeln halten", sagt Thiemann. Positiv beeindruckt habe sie die Haltung sowohl der Briten als auch der Iren zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. „Dessen größter Pfund ist die Lokalität der Berichterstattung. Das hat die Reise noch einmal bestätigt.“

Dieser Artikel erschien am 25.6.2025 in Ausgabe #117.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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