Die evangelische Kirche ringt um ihre Rolle in einer komplexer werdenden Welt - und eine entscheidende Frage, die sie sich dabei immer wieder stellt, lautet: Wie politisch darf, ja muss Kirche sein? Zwar fällt beim Blick in die Vergangenheit auf, dass Kirchen doch immer auch in einem Verhältnis zum Politischen gestanden haben. In der Nachkriegszeit etwa warben die Pastoren und Bischöfe von der Kanzel mitunter gar dafür, die Partei mit dem C zu wählen. Doch danach wurde es komplizierter und unübersichtlicher, in vielerlei Hinsicht.

für die Kirche? Eine Fachtagung in Loccum ringt um die Frage, wie politisch die evangelische Kirche auftreten soll. | Foto: GettyImages/Hase-hoch-2
Die Dominanz und die Deutungshoheit der Kirche ließen nach, sie selber hat sich in ihrem Inneren in den zurückliegenden Jahrzehnten stark gewandelt. Die Vorzeichen haben sich also mithin geändert, was einige stört. Ob Seenotrettung, Klimaschutz oder Diversität – insbesondere die evangelische Kirche hat sich in der jüngeren Vergangenheit mit manchen Positionen, die dem links-grünen Spektrum zugeordnet werden müssen, ziemlich deutlich nach vorn gewagt und damit sowohl Zuspruch als auch Irritation provoziert.
Manch einer unkt, der Deutsche Evangelische Kirchentag gleiche längst einer Delegiertenversammlung der Grünen. Eine Position, die man bei näherer Betrachtung beider Veranstaltungen nicht unbedingt teilen muss, die aber gleichwohl symptomatisch ist für die Situation, in der sich die Kirchen derzeit befinden. Am vergangenen Wochenende fand deshalb eine hochkarätig besetzte Fachtagung zu diesem Spannungsfeld von Glaube und Macht in der Evangelischen Akademie Loccum im Landkreis Nienburg statt, die von den Veranstaltern selbst leicht ironisch als „Selbsthilfegruppe“ bezeichnet worden ist. Einige Thesen, die an diesen Tagen vorgetragen wurden, sollen an dieser Stelle verdichtet wiedergegeben werden:
Die gesellschaftsspaltende Wirkung der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfungsstrategien hat den Konflikt um die Flüchtlingspolitik für einige Jahre überlagert. Gleichwohl scheint die Debatte über kirchliches Engagement im Mittelmeer ein noch immer nicht aufgearbeiteter Streitpunkt innerhalb der (evangelischen) Kirchen zu sein. Dass der Kirchentag 2019 die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) dazu aufgefordert hat, ein Schiff zur Seenotrettung zu senden, und die EKD-Spitze mit dem damaligen Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm dem Appell Folge geleistet hat, schwelt als Konflikt bis heute, wie an den Diskussionen der rund vier Dutzend Teilnehmer der Fachtagung in Loccum deutlich geworden ist. Ist die Kirche damit zu weit gegangen?

Liane Bednarz, Juristin und Publizistin mit konservativem Profil, vertrat diese Position: „Muss sich die EKD auf eine solche linksliberale Position festlegen? Konservative fühlen sich da nicht mehr mitgenommen.“ Ob bei der Seenotrettung oder der Klimapolitik, Bednarz warb für eine Unterscheidung zwischen fundamentalen Werten, die die Kirche vertreten soll, und tagespolitischen Lösungsansätzen, die nicht das Geschäft der Religionsgemeinschaft sein dürfen. So könne Konsens darüber herrschen, dass das Klima geschützt werden soll, die Kirche sollte sich aber raushalten aus der Frage, ob das besser mit Emissionshandel oder mit Kapitalismuskritik gelöst werden kann.
Ihr Widerpart in der Loccumer Diskussion, der sozialdemokratische Publizist Christian Nürnberger, leitete derweil aus der Bibel gar ganz konkrete sozialpolitische Schritte ab. Beiden widersprach hingegen Sven Giegold, Grünen-Politiker und Staatssekretär beim Bundeswirtschaftsministerium sowie EKD-Synodaler. Ob Emissionshandel oder Kapitalismuskritik der richtige Weg sei, könne nicht aus der Bibel abgeleitet werden. Dass sich Konservative nicht mitgenommen fühlten, könne aber ebenso wenig als Maßstab dienen, sagte Giegold. Der Maßstab, das sei jeweils der Glaube. Wo aber zieht man nun die Grenze zwischen Grundüberzeugung und Tagespolitik?

Für Liane Bednarz beginnt die Grundüberzeugung etwa bei einer Abgrenzung von der AfD, weil deren Politik die Menschenwürde infrage stelle. Gleiches postulierte sie für die Verharmlosung der Corona-Pandemie durch christliche Lebensschützer oder ein Putin-Appeasement durch Teile der Friedensbewegung. In diesen Fragen wünscht sie sich eine klare Haltung ihrer Kirche. Aber ist diese Grenzziehung konsistent? Diese Frage (immer wieder) zu beantworten, wird wohl entscheidend sein bei der Selbstfindung der Kirchen in den kommenden Jahren – und korreliert mit den folgenden Thesen.
Am dominanten Thema der Seenotrettung lässt sich auch ein weiteres Problem der politischen Kommunikation der evangelischen Kirche erkennen. In der medialen Öffentlichkeit wurde dieses Thema stark verknüpft mit dem damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm. Für manche ergab sich aus dessen leidenschaftlichem Einsatz für „United 4 Rescue“ die Wahrnehmung, ein guter evangelischer Christ könne nur noch sein, wer die zivilgesellschaftliche Seenotrettung im Mittelmeer uneingeschränkt gutheiße. Gleiches wiederholte sich bei seiner Sympathiebekundung für „Fridays for Future“, die man auch in der Landeskirche Hannovers beobachten konnte.
Bedford-Strohm, der aus München, wo er noch Landesbischof ist, zur Tagung nach Loccum angereist war, verteidigte zwar die Leidenschaft, mit der sich die Kirche zu öffentlich diskutierten Fragen äußern müsse. Er betonte allerdings auch: „Es geht nicht um den Abschluss von Diskussionen, sondern darum, dass alle miteinander ringen.“ Nachdenklichkeit habe aber nicht die gleiche Chance, medial aufgenommen zu werden, wie die Polarisierung, kritisierte er. Er wolle lieber leidenschaftlich und pointiert Gespräche in Gang bringen – womit deutlich wird, dass das evangelische Verständnis des (schwachen) Bischofsamtes im Kontrast zur Mediengesellschaft steht, die nun einmal nach der einen (starken) Stimme sucht, deren Wort gilt. Bedford-Strohm bezeichnete das als ein „katholisches Kirchenverständnis“.

Nun befindet sich die evangelische Kirche hier offenbar in einer Zwickmühle: Sie braucht ein erkennbares Gesicht und eine hörbare Stimme, darf aber nicht den Eindruck erwecken, eine einzelne Person stehe allein für die Haltung und Position der Kirche. Braucht die Kirche, die von sich selbst ohnehin stets im Plural denkt, also vielleicht mehrere profilierte Persönlichkeiten, die dann auch in der Lage sind, unterschiedliche Haltungen, die sich gleichwohl aus dem christlichen Glauben ergeben, öffentlich zu repräsentieren? Diese Aufgabe ist zweifellos keine einfache und schon jetzt zeigt sich, dass die aktuelle EKD-Ratsvorsitzende nicht einmal allein zum öffentlich wahrgenommenen Gesicht zu taugen scheint. Aus dem Kirchenamt der EKD konnte man dazu am Wochenende in Loccum aber einen mutigen Vorschlag vernehmen.
Johannes Wischmeyer, Pastor und Leiter der Abteilung Kirchliche Handlungsfelder, stellte in den Raum, dass sich die Rolle der „Leitenden Geistlichen“, wie es in der evangelischen Kirche heißt, bald wandeln könnte. Die Bischöfe würden dann zwar noch im Hintergrund organisieren, die Prominenten der Kirche wären dann aber andere. Wer das ist, bleibt offen. Eines müsse bei diesem Prozess, der mit einem Wandel von der Institution hin zur Bewegung zusammenhängt, allerdings klar sein, sagte Wischmeyer: „Was wir aufgeben müssen, ist die Idee von Steuerung.“
In den Kirchen kämpft man damit, dass man nicht mehr mit jeder Position auch Relevanz entfaltet. Doch gleichzeitig gibt es auch noch eine Erwartung von Politik und Gesellschaft an die Kirchen. „Die Kirche ist für die Politik immer da ein gesuchter Gesprächspartner, wo eine konkrete Position erwartet wird, zum Beispiel dann, wenn es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt geht“, schilderte etwa Thomas Kärst, der als Bevollmächtigter für die Nordkirche den Kontakt zu Senat und Bürgerschaft in Hamburg hält.
Doch auch bei den Grenzfällen des Lebens, beispielsweise Organspende, Sterbehilfe oder Schwangerschaftsabbruch, kann eine kirchliche Position gefragt sein, wie unter anderem die FDP-Politikerin Linda Teuteberg ansprach. Äußert sich die Kirche aber noch vernehmbar zu diesen Themen? Ganz bewusst hat sich die Kirche nicht zu einem der Gesetzentwürfe zum assistierten Suizid bekannt, die kürzlich beide im Bundestag keine Mehrheit finden konnten, sondern lediglich Argumente beigesteuert. Dazu sagte Hannovers Regionalbischöfin Petra Bahr, die auch Mitglied des Deutschen Ethikrates ist: „Daran zeigt sich, wie anspruchsvoll Debatten sind und wie wenig wir sie so führen, dass sie außerhalb von Expertenkreisen verstanden werden.“

Deutlich wurde an dem Wochenende in Loccum immer wieder, dass ein Problem zu sein scheint, dass die Öffentlichkeit nach einer eindeutigen Position verlangt, die es aber nicht gibt oder nicht geben kann. Bahr sagt dazu: „Das Ringen um Positionen bleibt Teil des Agierens im politischen Raum.“ Es sei fast ein höheres Gut, den kontroversen evangelischen Positionen zuzuhören und zu lernen, wie man die bleibend andere Position akzeptieren kann.

An der unklaren Haltung der evangelischen Kirche zum Krieg gegen die Ukraine zeigt sich die aktuelle Unfähigkeit dieser Kirchen, sich rasch zu positionieren. Zwischen den vorherigen friedensethischen Denkschriften der EKD lagen je 25 Jahre, jetzt soll innerhalb von zwei Jahren eine neue Haltung formuliert werden. Für die Kirche wenig Zeit, für die Öffentlichkeit eine Ewigkeit. Horst Gorski, bis vor kurzem noch Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD, verwies in diesem Zusammenhang auf den Widerspruch aus Tempo und Tiefenbohrung, der den Kirchen abverlangt werde. Die Meinungsbildungsprozesse liefen immer schneller ab, doch von den Kirchen erwarte man eine unheimliche Tiefe bei der Bewertung komplizierter Fragen.
Vielleicht hilft es den evangelischen Kirchen, wenn sie ihre Zuständigkeiten neu regeln und klarer benennen, wer zu welchem Thema sprechfähig sein muss. Auch dies ist ein Punkt, den die niedersächsische SPD-Landtagsabgeordnete Thela Wernstedt wiederholt mit Verwunderung ansprach: Die Meinungsbildungsprozesse und Sprecherpositionen in der SPD seien ziemlich klar geregelt – in der Kirche frage sie sich trotz großer Verbundenheit noch immer: Wer darf da eigentlich sprechen? Und zu welchem Thema? Einigt man sich in der Kirche auf Experten, die im permanenten Diskurs stehen, klappt es vielleicht auch schneller mit der Positionierung, die allerdings wohl nur noch selten absolut gestellt werden wird.