29. März 2021 · Soziales

Er passt nicht ins System der Impf-Bürokratie

Der Fall von Lukas Seidel ist, zugegeben, ein sehr spezieller. Aufgrund einer seltenen schweren Vorerkrankung passt er nicht in das gewöhnliche Raster, nach dem die Impfungen gegen das Corona-Virus derzeit vergeben werden. Die Eingruppierung in die Impf-Reihenfolge war schon nicht so ganz einfach und noch komplizierter ist nun die Auswahl des richtigen Impfstoffes. Doch der 30-Jährige weiß um seine Lage, er hat sich schlau gemacht, ein Gutachten eingeholt und immer wieder versucht, eine verbindliche Auskunft von denjenigen zu bekommen, die zuständig sind.

Noch immer weiß er jedoch nicht, welcher Impf-Gruppe er nun angehört und ob er den passenden Impfstoff erhalten wird. Sein Fall mag speziell sein, doch er offenbart, wo weitere Schwachstellen beim niedersächsischen Impf-Management zu liegen scheinen: Es ist zu statisch, und die Zuständigkeiten sind verworren.

Aufgrund seiner Vorerkrankung zählt Lukas Seidel zur Risikogruppe. Doch was bedeutet das für seine Corona-Impfung? Das Verfahren ist kompliziert... - Foto: privat

Was macht seinen Fall überhaupt so kompliziert? Lukas Seidel leidet an einer sogenannten Mukopolysaccharidose (MPS), einer erblich bedingten Stoffwechselkrankheit. Eine Folge davon ist etwa, dass er kleinwüchsig ist und im Rollstuhl sitzen muss. Lebensbedrohlich wird die Erkrankung, wenn sie zu Atemstörungen führt. Die Betroffenen sind anfälliger für Infekte, ein zäher Schleim belegt dann womöglich die Lunge, nachts kann eine Beatmung notwendig werden. Bei Seidel sind Herz und Lunge von der Erkrankung betroffen, somit zählte er gemeinhin zur Risikogruppe. Doch was das für seinen Platz in der Impfreihenfolge bedeutet, war zunächst nicht ganz klar. Es ist nicht sicher, ob für ihn eine größere Gefahr von Covid-19 ausgeht als für andere Menschen. Aufgrund seiner Vorerkrankung besteht zumindest der Verdacht, dass es so sein könnte.

Gutachten sollten die Lage klären

Deshalb hat er bereits im Januar ein Gutachten von seiner Fachärztin erstellen lassen, das ihm bei einer Höherstufung helfen sollte. Verfasst wurde es von Christina Lampe, Oberärztin am Universitätsklinikum Gießen und Marburg. Lampe arbeitet am Zentrum für seltene Erkrankungen, hat bereits mehrere solcher Bescheinigungen erstellt und schreibt in ihrem Gutachten vom 14. Januar: „Es gibt derzeit keine generelle Empfehlung für eine Impfung gegen Covid-19 und MPS, dennoch werden Patienten mit angeborener Stoffwechselstörung und Lungenbeteiligung als ‚Risiko-Gruppe‘ eingestuft und haben sich daher 2020 strengen Vorbeugemaßnahmen unterzogen, um eine Covid-19 Erkrankung zu vermeiden.“ Sie kommt zu dem Schluss, dass eine Covid-19-Impfung bei Lukas Seidel „empfehlenswert“ sei, auch wenn noch keine abschließende Beurteilung getroffen werden könne, da noch keine Daten zu Nebenwirkungen bei Menschen mit Mukopolysaccharidose bekannt seien.

Im Januar und Februar hat sich Seidel mit diesem Gutachten an das zuständige Gesundheitsamt gewendet, aber auch ans Sozialministerium. Noch dazu hat er verschiedene Politiker eingeschaltet, denn in der niedersächsischen Politik ist er gut vernetzt, trat 2017 selbst für die CDU als Landtagskandidat in Northeim an. Neben anderen hat Landtagsvizepräsident Frank Oesterhelweg versucht, für ihn eine Reaktion aus dem Sozialministeriums zu bekommen. Seidel hoffte darauf, mit diesem Vorgehen zügig eine Antwort zu erhalten. Dabei habe er bloß wissen wollen, wie er sagt, ob er mit seinem Gutachten in eine eingestuft werden kann. Anfang Februar wurde ihm dann vom Gesundheitsamt – nach interner Prüfung und nachdem die Impfverordnung angepasst worden war – bestätigt, dass er in eine höhere Prioritätengruppe eingestuft werden könne. Gestern reagierte nun das Sozialministerium auf eine neuerliche Anfrage von Anfang März: Dem Ministerium fehlten in dem medizinischen Gutachten nähere Angaben zum speziellen Fall, hieß es darin. Man hält es dort aber für möglich, dass er ohnehin zur zweiten Prioritätengruppe gehört, die sich seit kurzem für Impfungen anmelden kann. Zwei unterschiedliche Behörden, zwei unterschiedliche Meinungen.

Nicht jeder Impfstoff wird empfohlen

Seidels erstes Anliegen scheint nun inzwischen aber abgehakt. Als das Anmeldeportal für die Corona-Impfungen online geschaltet wurde, hat er sich dort registrieren können. Doch damit ergab sich direkt das nächste Problem. In seinem Gutachten steht nämlich auch eine Empfehlung, was den zu verwendenden Impfstoff angeht. Sie würde „alle Impfstoffe bevorzugen, die nicht Adenovektor-basiert sind“, schreibt seine Gutachterin Lampe. Das bedeutet bei den aktuell verfügbaren Impfstoffen, dass nur die mRNA-Impfstoffe von Biontech-Pfizer oder Moderna und Betracht kämen, nicht aber das Produkt von Astrazeneca. Seidel erklärt im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick, dass der falsche Impfstoff zur Folge haben könnte, dass er sich später nicht mehr einer womöglich notwendigen Gen-Therapie unterziehen könnte.

Da weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut

Seidel konnte sich also zum Impfen registrieren lassen und steht auf der Warteliste. Dass er seinen Termin aber nicht werde wahrnehmen können, sollte dann nur Astrazeneca angeboten werden, konnte er jedoch nirgends vermerken. Ein entsprechendes Feld auf der Warteliste fehlt. Wieder versuchte Seidel also, Kontakt aufzunehmen mit dem Gesundheitsamt, das sich erneut nicht zuständig fühlte. Stattdessen verwies man ihn auf die Impf-Hotline, doch auch da hatte er keinen Erfolg. Man sagte ihm, das System sehe es nicht vor, an einem bereits getätigten Eintrag etwas zu ändern. Man bot ihm stattdessen an, seine Anmeldung wieder zu löschen und neu einzutragen, berichtet er. Das wollte Seidel jedoch nicht, denn dann müsste er sich auf der Warteliste hinten wieder anstellen. Das gleiche würde passieren, müsste er den geplanten Impf-Termin absagen.

Ministerium teilt nicht die Auffassung der Fachärztin

Auf Anfrage des Politikjournals Rundblick widerspricht das Sozialministerium nun der Seidel mitgeteilten Grundannahme, dass allein der Astrazeneca-Impfstoff für ihn nicht zu empfehlen sei. „Es ist wegen der im Grunde ähnlichen Wirkweise der Impfstoffe keine Erklärung ersichtlich, warum eine spätere Gen-Therapie lediglich bei einer Impfung mit dem Impfstoff der Firma AstraZeneca ausgeschlossen sein könnte“, erklärt eine Sprecherin. Weil außerdem nicht vorgesehen sei, sich einen Impfstoff aussuchen zu können, könne man bei der Anmeldung im Impfportal auch keine Angaben dazu machen. Jedoch verweist man im Ministerium darauf, dass Astrazeneca künftig vor allem an die Hausärzte geliefert wird und die Impfzentren eher auf die mRNA-Impfstoffe zurückgreifen werden. Von dieser Einschätzung des Ministeriums hat Lukas Seidel bislang aber noch nichts erfahren. In der Reaktion des Ministeriums auf seine eigene Anfrage vom 5. März, die er nun gestern endlich beantwortet bekommen hat, heißt es lediglich: „Hinsichtlich der Organisation einer etwaigen Impfstoffzuordnung werden wir Ihr Anliegen an die zuständige Stelle weiterleiten.“ Schon wieder ein Widerspruch?

„Da weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut“, sagt Seidel resigniert. Es gehe ihm dabei gar nicht mehr um seinen eigenen Fall. Er habe Kontakte und könne sich helfen, betont er. Ihn treibe vielmehr die Sorge um, dass es bestimmt auch andere Menschen gebe, die wie er an einer Vorerkrankung leiden und nun auf ein absolut unflexibles und zutiefst verworrenes System treffen, das auf jede Frage mindestens zwei unterschiedliche Antworten gebe.

Von Niklas Kleinwächter

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #060.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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