Der letzte niedersächsische Ministerpräsident, der ein zehnjähriges Amtsjubiläum feierte, war Ernst Albrecht im Frühjahr 1986. Das war damals nicht Albrechts beste Zeit, in den wenige Monate später stattfindenden Landtagswahlen büßte die CDU die absolute Mehrheit ein, und ihm blieben dann nur noch vier Jahre bis zum – unfreiwilligen – Ruhestand. Ob es bei Weil anders ist, wenn am 19. Februar sein Ehrentag sein wird? Albrecht war in seinem zehnten Amtsjahr 56 Jahre alt. Weil wird Ende dieses Jahres 65. Albrecht befand sich seinerzeit im Wahlkampf, und er hatte sehr viel später dann die Postenübergabe an Rita Süssmuth in Aussicht gestellt – und damit Amtsmüdigkeit signalisiert. Weil hat die erfolgreiche Landtagswahl gerade hinter sich, ohne dass er eine Perspektive auf einen Nachfolger eröffnet hätte. Überhaupt gibt es nur noch einen weiteren früheren Ministerpräsidenten mit mehr als zehnjähriger Amtszeit, die er allerdings nur mit Unterbrechungen erreicht hatte. Das war Hinrich Wilhelm Kopf, der erste Regierungschef dieses Landes.

Ermüdung, Abnutzung, Lustlosigkeit? Weil ist ein Meister des öffentlichen Auftritts. Die Leute meinen, ihn zu kennen wie einen guten Nachbarn, denn er erscheint ja so natürlich und unkompliziert. Nicht packende Reden sind sein Markenzeichen, diese wirken manchmal sogar etwas langatmig und schönfärbend, manche sagen: langweilig. Selten sind feurige Gedanken dabei, die zum Disput anheizen. Aber der Ministerpräsident ist ein guter Landesvater, der den Menschen freundlich und zugewandt gegenübertritt, vor einer größeren Menge selten gehetzt oder unwirsch wirkt, sondern immer interessiert und wie ein Zuhörer und Kümmerer. Außerdem tritt er als personifizierte Gelassenheit auf. Über Weil heißt es, er halte Zusagen ein und sei sehr verlässlich. Auf seinem Weg nach oben musste auch er Konkurrenten ausstechen, zur Seite schieben oder kaltstellen, wie es für jeden Spitzenpolitiker gilt. Aber Weil hat die meisten derjenigen, die auf seinem Weg den Kürzeren ziehen mussten, nie aus dem Blickfeld verloren, er hat die von ihm Verletzten gepflegt. Dass er umsichtig ist und bescheiden, das eigene Fortkommen nicht über alles andere stellt, eilt dem Sozialdemokraten als guter Ruf voraus. In einer Warteschlange würde er sich nie vordrängeln, im Stadion meidet er die VIP-Lounge. Man könnte auch sagen: „Der ist ein anständiger Kerl.“ Nach zehn Amtsjahren haben so viele Politiker Starallüren oder sie sind unzugänglich geworden, einige auch sarkastisch und angewidert vom täglichen Klein-Klein. Das merkt man bei Weil meistens nicht. Auch er hat Tage mit schlechter Laune oder Momente der großen Ungeduld. Da kann er kräftig austeilen, sein Gegenüber merkt dann, wie sehr ihn die eine oder andere kritische Bemerkung gewurmt hat, oft sind es Kleinigkeiten. Er ist eben doch sehr empfindlich. Aber Weil hat gelernt, solche Gefühlsregungen in der Öffentlichkeit weitgehend zu überspielen. Sigmar Gabriel und David McAllister, um zwei Vorgänger zu nennen, waren dazu weniger imstande. Weil aber ist ein Kontrollmensch, einer, der sich und die anderen, die mit ihm arbeiten, gern unter Beobachtung hält und zuweilen – sehr diskret – eingreift und steuert. Dann kann er intern auch ganz anders sein, viel unwirscher, als man nach dem äußeren Auftreten je vermuten würde. Das erinnert dann an einen anderen Vorgänger, an Christian Wulff.
„Er schafft Distanz zwischen sich und den Problemen.“
Zuweilen macht Weil sich auch gern unsichtbar. Wenn es etwa um die Bewältigung akuter Krisen geht, dann schickt er meist die zuständigen Fachminister vor. „Er schafft Distanz zwischen sich und den Problemen“, hat seine jetzige Stellvertreterin Julia Hamburg mal über ihn gesagt. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn es ernste Personalentscheidungen zu treffen gilt, etwa zur Auswahl von Ministern oder anderen leitenden Positionen, dann ist Weil ein Freund einsamer Entscheidungen. Er weiht wenige Vertraute ein, auch nicht immer dieselben, und überrascht am Ende selbst sein engeres Umfeld. Nicht wenige, die meinten, nah an Weil zu sein, sind über die Jahre frustriert zurückgeblieben. Denn sie spürten, dass er auch ihnen nicht so sehr vertraute, wie sie es erhofft hatten. Ein solches Gefühl hinterlässt Enttäuschungen. Meint er denn wirklich, immer alles besser zu wissen? Eines zeichnet Stephan Weil, den gütigen und meistens lächelnden Landesvater, am Ende auch aus: Er ist ein zutiefst misstrauischer Mensch. Und er ist ein Parteisoldat. Es muss schon sehr viel passieren, bevor er die Größe zeigt, öffentlich einen politischen Gegner zu loben. Andererseits: Die bei vielen Politikern zu beobachtende Sünde, sich abfällig über andere zu äußern, auch über Leute im engeren Umfeld, kam bisher bei Weil nicht oder wenn dann nur höchst selten vor. Das wird von den Mitarbeitern dann mit höchster Loyalität honoriert.

Was ist aus Niedersachsen in zehn Jahren Weil-Regierung geworden? Der überwiegende Teil dieser Epoche fand in wirtschaftlich entspannten Zeiten statt. Daher sind hohe staatliche Investitionen auch möglich gewesen, etwa für die Universitätskrankenhäuser, für den Breitbandausbau und die – immer noch zu langsame – Digitalisierung. Es kamen neue Lehrer und Polizisten, es wurde viel getan zur frühkindlichen Bildung, etwa die Entlastung der Eltern von den Kindergartengebühren. Es wurden zeitweise die Landesschulden etwas zurückgefahren, es kam zum fruchtbaren Dialog zwischen Naturschützern und Landwirten. Zuwanderung und Integration gelangen organisatorisch 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle, ebenso wie heute, auf dem Höhepunkt der Vertreibung von Menschen aus der Ukraine. Im Verein schafften Land und Kommunen die Aufgabe. Die Frauenförderung in repräsentativen Ämtern, auch in den Parlamenten und in der Regierung, machte langsame Fortschritte. Wenn es um technische Innovationen im großen Stil ging, etwa bei der Produktion von „grünem Stahl“ in Salzgitter oder beim LNG-Terminal in Wilhelmshaven, dann standen die von Weil geführten Regierungen nicht auf der Bremse, sondern erwiesen sich als verlässliche und kooperative Partner der Investoren. Von daher rührt auch der Ruf der niedersächsischen Sozialdemokratie, sie sei pragmatisch, praxisnah und durchaus wirtschaftsfreundlich. Der ständige Dialog mit Wirtschaftsvertretern und Gewerkschaftern zeichnete den Stil von Weil aus. Zunehmend ist das allerdings auch die Bastion von Olaf Lies, seinem einstigen parteiinternen Rivalen und jetzigen Wirtschaftsminister. Ob solche Wege auch dem Ziel dienen, mögliche Kritiker frühzeitig zu umgarnen und einzubinden? Es mag sein.
"Weil ist zwar ein guter Verwalter, aber kein großer Gestalter."
Allerdings stimmt auch der Vorwurf, Weil sei zwar ein guter Verwalter, aber kein großer Gestalter. Der Spitzname „Oberbürgermeister von Niedersachsen“ bringt es ganz gut auf den Punkt. Größere Reformen der öffentlichen Verwaltung, die angesichts der bevorstehenden Digitalisierung längst überfällig sind, wurden von Weil nicht nur nicht angestrebt – er hat sie vielmehr selbst ausgebremst. 2017 hatte der Koalitionspartner CDU das gewollt und sogar in den Koalitionsvertrag geschrieben. Weil war es, der intern bremste. Vor Sparrunden und Kürzungen, so scheint es, weicht er lieber aus. Weil versteht den „starken Staat“, den er vertritt, vor allem auch als einen, der für öffentliche Aufgaben ausreichend Geld bereitstellt. Bislang konnte er das auch stets, da die Kassen immer gut gefüllt waren. Zum „guten Verwalten“ passt auch das sorgfältige Beachten der Regeln und Vorgaben. Wenn etwas aus dem Ruder lief, wie etwa bei der „Vergabe-Affäre“ 2017, dann hat Weil zügig und entschlossen gehandelt. Das fehlende Gestalten, die Schattenseite, bezieht sich nicht nur auf die Kernthemen der Landespolitik, sondern auch auf die Bundesebene. So stark sich Weil in die bundespolitische Debatte um die Energiepolitik, die Atommüll-Endlagerung oder um Details der Sozialstaatsreform eingebracht hat, so sehr wurde doch so manches Mal ein starkes Wort aus Hannover vermisst. Gerhard Schröder oder Christian Wulff hatten früher öfter die Gelegenheit genutzt, mit zugespitzten Positionen eine bundesweite Diskussion anzuschieben. Mit Weil wird das seltener in Verbindung gebracht, wohl auch deshalb, weil er als zu vermittelnd, zu differenziert auftritt. Wenn es mal anders war, etwa nach der populären Abwehr eines bayerischen Vorschlags zur Fracking-Erlaubnis, dann wirkte das oft fremd oder aufgesetzt bei ihm.
Unterm Strich ist Stephan Weil ein sehr erfolgreicher Ministerpräsident, der seine lange Amtszeit dem Umstand zu verdanken hat, dass er immer sehr geschickt, rücksichtsvoll und umsichtig agiert hat. Hätte er es anders getan, säße jetzt vermutlich ein anderer in der Staatskanzlei. Und wie geht es nach ihm weiter? Olaf Lies, der Wirtschaftsminister, ist sicher der Favorit für die Nachfolge. Nach Pistorius‘ Abgang wurde auch Daniela Behrens aufgewertet, die neue Innenministerin. Ob ein Zweikampf droht zwischen Lies und Behrens? Weil scheint es zu gefallen, dass da nicht nur einer ist, den man „Kronprinz“ oder „Kronprinzessin“ nennen könnte. Andererseits: Behrens muss nun erstmal zeigen, dass sie eine gute Innenministerin ist.