Die Führung der Continental AG hat lange geschwiegen zu der Rolle des Unternehmens in der Zeit des Nationalsozialismus. Am Donnerstag nun stellte die Geschäftsführung eine umfangreiche Studie dazu vor – basierend auf Unterlagen des Firmenarchivs und auf Einordnungen des Münchener Historikers Prof. Paul Erker. Auf 800 Seiten hat er die Verstrickungen des hannoverschen Reifenkonzerns und mehrerer seiner heute eingegliederten Firmen dargestellt. Das betrifft etwa Teves, VDO, Phoenix und Semperit. Continental und die anderen werden von Prof. Erker als „Stützpfeiler der Rüstungs- und Kriegswirtschaft“ beschrieben, das fängt an bei den Reifen (auch für Militärfahrzeuge), geht über die Schuhe und reicht bis zu technischen Geräten zur Steuerung der V1-Rakete.


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Eine Frage schwebte über der Untersuchung und auch der Pressekonferenz, in der die Conti-Führung Position bezog: Wie konnte das in den zwanziger Jahren „liberale und weltoffene“ Unternehmen, einst gegründet von jüdischen Bankiers, zu einer Säule der NS-Regimes werden? Ariane Reinhart, Personalchefin von Continental, spricht von „äußeren und inneren Kräften“, die gewirkt hätten: Auch in der Führung der Firma habe nach 1933 ein Geist Einzug gehalten, der auf Anpassung an das Regime ausgerichtet war. Nun hält Prof. Erker Continental im Vergleich zu anderen Konzernen nicht für einen Hardliner, gleichwohl habe es ständige Bemühungen gegeben, die eigenen Wirtschaftsinteressen mit den Anforderungen des NS-Regimes in Einklang zu bringen. Das war unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft, in der die Anweisungen der Regierung herrschten, nicht einfach. Dabei hätten die Unternehmensführer sowohl die Dauer des Krieges unterschätzt, als auch die Möglichkeit einer deutschen Niederlage ausgeblendet.

Diese Schilderungen sind bedrückend und gehen mir sehr nah. Unser Unternehmen war verstrickt in Verbrechen, geplant von Bürokratie, Politik und Militär.

Für Continental haben im Zweiten Weltkrieg etwa 10.000 Zwangsarbeiter gearbeitet, anfangs italienische „Jungfaschisten“, dann Belgier aus besetzten Gebieten, später französische und russische Kriegsgefangene – und danach auch KZ-Häftlinge. Beschrieben wird in der Studie, wie auf grausame Weise die Qualität von Conti-Schuhmaterial im Lager Sachsenhausen getestet wurde: Häftlinge mussten lange Strecken damit laufen – und wer hinfiel, wurde von SS-Wachleuten erschossen. „Diese Schilderungen sind bedrückend und gehen mir sehr nah. Unser Unternehmen war verstrickt in Verbrechen, geplant von Bürokratie, Politik und Militär“, sagt Conti-Chef Elmar Degenhardt.

Continental sei „angepasst“ gewesen und habe „kollaboriert“. Ende der neunziger Jahre, als eine Stiftung der Wirtschaft zur Entschädigung der Zwangsarbeiter gegründet wurde, beteiligte sich die Conti mit „einem zweistelligen Millionenbetrag“, berichtet Degenhardt. Die Untersuchung der Unternehmensgeschichte wurde erst 2015 in Gang gesetzt. 2016 hat man das Firmenarchiv mit 1000-Regel-Metern an Akten, das seit den siebziger Jahren verwaist war, wiederbelebt. Nun liegt die Studie von Erker vor, und Continental will vom nächsten Jahr an sein Archiv für Wissenschaftler öffnen, mit einer Tafel an die Namen der Zwangsarbeiter erinnern und mit einem Stipendium die Erforschung der Firmengeschichte fördern.

Unterscheidung von Opfer und Täter heute mitunter schwierig

Dabei dürfte, wie Prof. Erker betonte, das Grau in der Geschichtsschreibung rasch klar werden: Es gab auch überzeugte Nazis, die im Unternehmen eine rasche Säuberung durchsetzten – aber daneben wirkten viele Zögernde, die sich aus Opportunismus dem Regime ergaben. Andere wie Alfred Teves wehrten sich lange gegen den Druck, gaben schließlich doch bei. In mehreren Fällen ist die Unterscheidung von Opfer und Täter heute schwierig. Zwei jüdischen Prokuristen konnten noch lange bei Conti bleiben, bevor sie dann herausgedrängt wurden. Für den jüdischen Aufsichtsratschef Julius Caspar, der bis 1938 noch wirkte, galt das auch. Die Unterwerfung unter das NS-Regime passierte dann nicht nur auf Druck der Partei, sondern auch, weil die NS-Kritiker im Unternehmen immer mehr an Rückhalt einbüßten. Eine andere, ebenso prekäre Frage betrifft die Sühne nach 1945: Nur wenige Funktionäre mussten sich verantworten. Conti-Chef Fritz Koenecke, der mit einem freundlichen Urteil der Spruchkammer im Entnazifizierungsverfahren davongekommen war, ging nach Süddeutschland und wurde später Vorstandschef von Daimler-Benz.

Welche Lehren zieht Continental aus der Studie? Personalchefin Reinhart spricht von der Werten des Unternehmens. Rassismus, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit hätten keinen Platz und würden konsequent verfolgt, die Vielfalt zähle „zur DNA des Unternehmens“. Wichtig sei, dass die Führungskräfte diese Einstellung auch verkörperten – und insofern für die Belegschaft ein Vorbild lieferten. Transparenz, Offenheit und Dialogbereitschaft zählten auch dazu. Regelmäßige Seminare mit Mitarbeitern in Hannover-Ahlem, dem Ort des ehemaligen KZ-Außenlagers, gehörten dazu. Außerdem werde von jeder Conti-Führungskraft erwartet, dass sie die Studie von Prof. Erker gelesen hat. Continental hat heute 240.000 Mitarbeiter in rund 60 Ländern der Erde.