
Im neuen Jahr ist es wie in den Jahren zuvor: Wenn auf eines Verlass zu sein scheint, dann auf immer neue Höhepunkte im heftigen Flügelstreit innerhalb der niedersächsischen AfD. Diese rechtskonservative Partei ist bundesweit bekannt für ihre erbitterten Konflikte, ja internen Feindschaften, und seit langem gilt für Beobachter die Faustformel: In Niedersachsen ist es immer noch ein bisschen schlimmer als im Rest der Republik.
Der jüngste Konflikt wird ausgelöst vom umstrittenen Landesvorsitzenden Jens Kestner. Der Northeimer Bestattungsunternehmer war bis zum Herbst Bundestagsabgeordneter, sein größter Erfolg war beim AfD-Landesparteitag im September 2020, als er die damalige Landesvorsitzende Dana Guth stürzte. Einige Wochen später versuchte er, Kandidat seiner Partei für die Bundestagswahl 2021 zu werden – doch diesmal änderten sich in der Mitgliederversammlung die Mehrheitsverhältnisse, Kestner unterlag mit Pauken und Trompeten gegenüber dem moderaten Lager, das gemeinhin mit dem früheren General Joachim Wundrak verknüpft wird, dem Wundrak-Lager. Kestner und sein Verbündeter Armin-Paul Hampel wurden nicht wieder für den Bundestag aufgestellt. Kurz danach, also Anfang 2021, meldeten sich aus dem Kestner-Lager Stimmen, die Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit der Aufstellung der Bundestagsliste äußerten. Die Landeswahlleiterin wurde eingeschaltet, der Landesvorstand entschied sich für die Wiederholung der Aufstellungsversammlung – doch die bestätigte im Juli 2021 die schon im Dezember 2020 gewählte Liste. Seither gilt Kestner als enorm geschwächt, noch dazu bröckelt sein Vorstand, vier Positionen sind derzeit unbesetzt, gegen zwei Vize-Vorsitzende schweben Parteiausschlussverfahren. Der von Jörg Meuthen geführte Bundesvorstand ist Kestner in herzlicher Abneigung verbunden. 17 niedersächsische Kreisverbände haben schon aufbegehrt und fordern vehement einen Sonder-Landesparteitag, der laut Satzung jetzt eigentlich „unverzüglich“ einberufen werden müsste. Kestner zögert und hat intern erklärt, er finde keine Halle, bei der gegenwärtigen Corona-Lage schon gar nicht.
Das alles sind düstere Aussichten für den AfD-Landeschef kurz vor einer wichtigen Entscheidung: Wer soll die Partei in den Landtagswahlkampf führen? Die Spitzenkandidatin von 2017, Dana Guth, kommt nicht mehr in Frage, sie hat die AfD inzwischen verlassen. Kestner selbst ist im Gespräch für einen Wechsel in die Landespolitik, äußert sich direkt aber nicht dazu. Das gilt auch für einen seiner Vertrauten, den früheren Landesvorsitzenden Armin-Paul Hampel, der ebenfalls im Herbst sein Bundestagsmandat verloren hat. In der Partei heißt es, weder Kestner noch Hampel hätten derzeit auf die herkömmliche Weise einer Meinungsbildung eine Aussicht auf Erfolg, denn zweimal habe das Wundrak-Lager in den vergangenen 14 Monaten bewiesen, wie gut es mobilisieren könne für Parteitage. Da wurden Busse organisiert und Anhänger motiviert. Da in der AfD kein Delegiertenprinzip gilt, spielt die Frage, wer vor Parteitagen besonders effektiv seine Truppen auf die Beine bringt, eine entscheidende Rolle. Der Gewinner war hier in den vergangenen Monaten stets der Kreis um den alten General Wundrak.
In dieser verfahrenen Situation deutet sich nun allerdings für Kestner ein möglicher Ausweg an, und als Rettungsanker erscheint hier – kurioserweise – ausgerechnet die Corona-Politik der Landesregierung, die gemeinhin gerade von der AfD immer besonders heftig bekämpft wird. Wegen der hochansteckenden Omikron-Variante ist es den Parteien diesmal ausnahmsweise erlaubt, ihre Listenaufstellungen zur Landtagswahl auch per Briefwahl zu organisieren. Das hieße, der Landesvorstand könnte jedem der rund 2500 Mitglieder in Niedersachsen die Wahlvorschläge für die Landesliste zusenden – jeweils mit allen Bewerbern für jeden der Listenplätze –, und die Mitglieder müssten das dann per Post zurücksenden an eine möglichst neutrale Instanz, etwa einen Notar. Diese Instanz müsste die Ergebnisse dann auswerten. Da man auf Stimmengleichheiten gefasst sein muss, könnte diese Runde noch mit einem zweiten Wahlgang ergänzt werden. Wie es heißt, rechnet sich das Kestner-Lager mit einem solchen Weg Erfolgschancen aus, da man die letzten Siege des Wundrak-Lagers bei zwei Parteitagen nicht auf dessen vermeintliches Übergewicht in der Mitgliedschaft, sondern lediglich auf ein besseres organisatorisches Geschick zurückführt. Die Überlegung lautet so: Sollten alle Mitglieder daheim die Briefwahlunterlagen ausfüllen, hätten relativ bekannte Namen wie Hampel oder Kestner im Zweifel allemal bessere Chancen als Bewerber des Wundrak-Lagers, die auch noch nicht feststehen. Hier werden die Landtagsabgeordneten Klaus Wichmann (Verden), Harm Rykena (Cloppenburg) oder Christopher Emden (Nordenham) gehandelt, Wichmann könnte der Favorit sein.
Die Gefechtslage in der AfD sieht nun so aus: Das geschwächte Kestner-Lager erwägt die Briefwahl, könnte das sogar recht zügig durch Beschluss des Landesvorstandes in die Wege leiten. Das Wundrak-Lager würde dann vermutlich aufschreien, denn die 17 protestierenden Kreisverbände wollen zunächst einen Landesparteitag – womöglich zu dem Zweck, Kestner unter Druck zu setzen oder gar zu stürzen. Kestner selbst weiß, dass er den Sonderparteitag organisieren muss, tut das aber widerwillig. Er spricht von den hohen Kosten für die Hallenmietung (90.000 Euro). Das Porto einer Briefwahl-Aktion zur Aufstellung der Landesliste könnte hingegen, wenn es sparsam bemessen wird, auf 45.000 Euro begrenzt werden. Spannend wird auch zu beobachten sein, wie sich der Bundesvorstand verhält. Werden Meuthen und seine Verbündeten den Druck auf Kestner in Richtung Sonderparteitag erhöhen? Werden sie ihn womöglich sogar eigenmächtig des Amtes entheben und ihm damit die Chance rauben, mit der beschriebenen Briefwahl-Aktion für die Landtagsliste Fakten zu schaffen?
Zu all dem Ärger für den AfD-Landeschef kommen jetzt auch noch Verschiebungen im Kräfteverhältnis – zu Kestners Lasten: Der rührige Landtagsabgeordnete Stephan Bothe (Lüneburg) war bisher im Kestner-Lager fest verortet, zeigt sich aber zunehmend offen auch für eine Kooperation mit der „anderen Seite“ wie es heißt. In Kestners Umfeld sieht man in ihm schon einen „Verräter“ und sinnt auf Rache – spätestens bei der Aufstellung der Landtagswahlliste. Manche sagen, Bothe und sein Kollege Peer Lilienthal wollten sich dem Wundrak-Lager nähern, um eine eigene neue Kandidatur für den Landtag zu sichern. Das ist aber ein gefährliches Spiel, da Bothe auf diese Weise schnell zwischen den Machtblöcken zerrieben werden könnte. Das Frühjahr verspricht, bei der AfD spannend zu werden.