Manchmal sind es die kleinen Dinge. In diesem Fall: nicht einmal zwanzig Zentimeter. So hoch ist in etwa das Podest, das im Raum der Landespressekonferenz steht. Zu hoch, um dort ohne Rampe mit einem Rollstuhl drauf zu kommen. Also musste die Vorstellung der neuen niedersächsischen Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen kurzerhand anderswo stattfinden. „Vieles ist bedacht worden beim Umbau des Landtags, eine kleine Ecke hat man aber vergessen“, sagt Minister Andreas Philippi (SPD) am Mittwoch dann also im großen Sitzungsraum des Sozialministeriums, wo er sichtlich zufrieden Annetraud Grote vorstellt.

Am 1. März wird die gebürtige Niedersächsin ihr neues Amt offiziell antreten, sie ist dann erst die Dritte in dieser Position nach Karl Finke (1990 bis 2014) und Petra Wontorra (2015 bis 2023). Die Anekdote rund um die fehlende Barrierefreiheit im Raum der Landespressekonferenz kann dabei sinnbildlich für das stehen, worum es Annetraud Grote künftig gehen wird: die kleinen Stellen finden, an denen Inklusion noch immer nicht gelingt. Dabei will die Juristin durchaus auch den Finger in die Wunde legen, sagt sie. Sie tut das aber mit einer gewissen Leichtigkeit, die dem Anliegen sicher guttun wird.
„Ich stoße in meinem Leben immer wieder auf Barrieren, die ich überwinden muss.“
„Vieles ist möglich“ – unter diesem Titel stand das erstes Inklusionsprojekt, das Annetraud Grote bei ihrem früheren Arbeitgeber, dem Paul-Ehrlich-Institut in Frankfurt am Main, konzipiert hatte. Der Spruch könnte aber auch das Motto ihres eigenen Lebens sein, erzählt die 56-Jährige vor Journalisten. Von Geburt an sind ihre Muskeln unterentwickelt, Arthrogryposis nennt sich die seltene Erkrankung, die bereits im Mutterleib zu Gelenkverkürzungen geführt hatte. Annetraud Grote nutzt deshalb einen Rollstuhl und stieß damit schon in der Schule auf Hindernisse, die jedoch nicht unüberbrückbar bleiben sollten.
Das Gymnasium, auf das sie in ihrer Jugend in Lüneburg gegangen ist, befand sich in einem alten, historischen Gebäude mit vier Stockwerken und keinem Aufzug. Um in die Klassen- und Fachräume zu gelangen, war die jugendliche Annetraud auf die Unterstützung ihrer Mitschüler angewiesen, die sie die Treppen hochgetragen haben, zuerst die älteren Jahrgänge, dann irgendwann ihre Klassenkameraden, erzählt sie. „Ich stoße in meinem Leben immer wieder auf Barrieren, die ich überwinden muss“, sagt Grote. Das gelinge ihr aber zusammen mit Menschen, die Mut und Vertrauen hätten, Dinge zu versuchen und einfach zu machen.

Trotz mancher Herausforderungen hat sich Annetraud Grote in ihrem Leben durch ihre Behinderung nicht begrenzt gefühlt. „Ich empfinde mein Leben als sehr inklusiv und erfüllt.“ Dass es heute Menschen noch anders gehe, mache sie traurig. Eines ihrer Ziele in ihrem neuen Amt sei es deshalb, die von ihr bereits so empfundene Realität auch für andere herzustellen. Damit das besser gelingen kann, wünscht sie sich einen offenen Umgang mit der eigenen Behinderung – egal, ob diese nun sichtbar ist oder nicht. „Es ist wichtig, die Behinderung als Teil des Lebens anzunehmen und anzuerkennen. Nur so können wir Lösungen finden.“
Insgesamt sei die Inklusion in Deutschland schon weit, insbesondere bei jüngeren Menschen sei das zu spüren, sagt sie. Ihr sei es wichtig, Inklusion als Querschnittsaufgabe zu verstehen, die Spaß machen kann und nicht bloß etwas sei, das „beackert“ werden muss. Sie wolle zudem bewirken, dass Inklusion nicht nur Ausdruck einer ethischen Grundhaltung sei, sondern auch aus betriebs- und volkswirtschaftlicher Überzeugung vorangetrieben werde. „Auch die Arbeitgeber profitieren“, sagt Grote aus eigener Anschauung als langjährige Personalchefin am Paul-Ehrlich-Institut.
„Kleine Veränderungen erreichen viel, wenn es darum geht, Barrieren aller Art abzubauen.“
Bei ihren konkreten Vorhaben bleibt Annetraud Grote einstweilen noch zurückhaltend und verweist auf ihren Welpenschutz. Erst am Freitag wird sie ihr Büro im Sozialministerium beziehen und sich dort mit ihren zwei Referentinnen über die Details der nächsten Aufgaben austauschen. Ein Thema werde für sie aber auf jeden Fall das „Persönliche Budget“ sein, also eine Geldleistung, die Menschen mit Behinderung seit einiger Zeit anstelle von Sach- und Dienstleistungen beziehen, um ihre gesellschaftliche Teilhabe darüber eigenverantwortlich zu gestalten. Zudem werde demnächst der Landesbeirat für Menschen mit Behinderung neu bestellt, da gelte es zehn der zwanzig Plätze klug zu besetzen. In den Blick nehmen wolle Grote auch gewisse Sonderwelten, in denen sich Menschen mit Behinderungen noch immer zu häufig bewegten. Als Beispiel nennt sie Tageseinrichtungen, die wie Schulen seien, aber vom Sozial- und nicht vom Kultusministerium betrieben würden. Auch die Bezahlung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung sei ein strittiger Punkt. Sie selbst versteht sich dabei als Brückenbauerin und Botschafterin, die Verwaltung und Schule, Hochschule und Arbeitgeber sowie Selbstständige und Verbände mitnehmen wolle: „Nur gemeinsam schaffen wir das.“

Dass es in Deutschland in puncto Inklusion insgesamt noch einige Hausaufgaben zu erledigen gibt, habe erst kürzlich der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen mit Nachdruck deutlich gemacht, erläutert Sozialminister Philippi. Niedersachsen werde zeitnah unter anderem mit einem vierten Aktionsplan nachsteuern. Annetraud Grote wird den Sozialminister bei der Ausgestaltung wohl kritisch begleiten. Ihre Unabhängigkeit beteuerte Philippi jedenfalls am Mittwoch dann gleich auch noch einmal ausdrücklich. Außerdem attestierte er der neuen Landesbeauftragten, eine starke Persönlichkeit zu haben, empathisch und durchsetzungsstark und dabei immer gut gelaunt zu sein. Annetraud Grote geht diese Aufgaben, ob groß oder klein, nun frohgemut an und sagt: „Kleine Veränderungen erreichen viel, wenn es darum geht, Barrieren aller Art abzubauen.“ Das kann dann manchmal auch einfach ein Brett sein, das man als Rampe verwendet, um Hürden zu überwinden. Man müsse „lieber mal einfach denken.“