23. Aug. 2022 · Wirtschaft

Wer wird der Nachfolger des 9-Euro-Tickets? Diese Vorschläge sind im Rennen

Kommt jetzt der Stop für den günstigen ÖPNV oder gibt es eine Anschlusslösung für das 9-Euro-Ticket? Die Debatte läuft. | Foto: GettyImages/hayatikayhan

Die Erwartungen waren nicht groß und wurden dennoch enttäuscht: Für den vergangenen Freitag war eine Bund-Länder-Runde angekündigt, um über die Zukunft des 9-Euro-Tickets zu beraten. Die erhoffte Entscheidung oder Weichenstellung für eine Nachfolgelösung gab es jedoch nicht. Sofern das Treffen überhaupt stattgefunden hat, wurde es von allen Beteiligten totgeschwiegen. Eine bundesweite Anschlusslösung für das 9-Euro-Ticket zum 1. September ist damit wohl endgültig vom Tisch, denn dass die Verkehrsverbünde innerhalb von nur einer Woche eine der vorgeschlagenen Nachfolgeregelungen umsetzen können, gilt als ausgeschlossen. Und nachdem auch die vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) vorgeschlagene Notlösung, das bisherige 9-Euro-Ticket einfach um zwei Monate zu verlängern, in der Politik auf Desinteresse gestoßen ist, richten sich die Blicke nun auf den Jahresbeginn 2023. Zumindest bis zum 1. Januar bleibt ausreichend Zeit, um einen der vielen Vorschläge umzusetzen, die derzeit im Gespräch sind. Folgende Ideen stehen derzeit im Raum:

69-Euro-Ticket

Der Branchenverband VDV, der über 600 Unternehmen des öffentlichen Personen- und Schienengüterverkehrs vertritt, hat sich für eine vergleichsweise teure Lösung ausgesprochen. „Wir schlagen insbesondere für diejenigen, die sich in der Marktforschung als relevante Zielgruppe erwiesen haben – zahlungswillige Autofahrer – ein bundesweit gültiges ÖPNV-Klimaticket für 69 Euro pro Monat als einfache Fahrtberechtigung der 2. Klasse vor“, sagt VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff und zählt die aus Branchensicht wichtigsten Voraussetzungen für eine Anschlusslösung auf: „Diese muss bundesweit gültig sein, entlastend wirken – und darf nicht in Konkurrenz zum Ausbau des Angebots im ÖPNV stehen.“ Die Mehrkosten für das 69-Euro-Ticket beziffert Wolff mit rund zwei Milliarden Euro jährlich.

Oliver Wolff | Foto: VDV

49-Euro-Ticket

Die Grünen hatten Anfang des Monats eine zweistufige Anschlusslösung vorgelegt, die aus einem Regionalticket für 29 Euro und einem Deutschlandticket für 49 Euro besteht. Das Konzept soll mit dem Abbau des Dienstwagenprivilegs abgebaut werden, wodurch laut Berechnungen von Bundestags-Fraktionschefin Katharina Dröge rund 5 Milliarden Euro in die Kassen von Bund und Ländern fließen könnten. „Im September kommt der Bundestag zusammen, dann könnten wir entscheiden, sodass wir zum 1. Oktober ein neues Ticket hätten“, sagte Dröge in einem Interview. Ein Detail ist allerdings noch etwas unklar: Das Regionalticket der Grünen soll nicht nur landesweit, sondern in manchen Regionen auch länderübergreifend gelten. Für Niedersachsen würde das bedeuten, dass auch Hamburg und Bremen sowie Teile von Nordrhein-Westfalen in den Geltungsbereich rutschen könnten. Dieser Teil des Konzepts ähnelt dem Vorschlag des Verkehrsclubs VCD.

Länder-Plus-Ticket für 75 Euro

Wenn es nach dem Verkehrsclub VCD geht, wird für Niedersachsen künftig das „Nord-West-PlusTicket“ gelten. Der Umweltverband schlägt nämlich vor, das deutsche Tarif-Wirrwarr komplett zu entwirren. Dazu soll die Bundesrepublik in acht Tarifbereiche aufgeteilt werden, die sich teilweise auch überschneiden. Laut der VCD-Bundesvorsitzenden Kerstin Haarmann könnte diese Nachfolgelösung bereits zum 1. November in Kraft treten – wenn die Politik nicht noch mehr Zeit vertrödelt. Das Länder-Plus-Ticket soll regulär 75 Euro pro Monat kosten. „Beim Regeltarif haben wir uns daran orientiert, was langfristig finanzierbar ist, ohne die Mittel für den dringend notwendigen ÖPNV-Ausbau zu gefährden“, heißt es.

Quelle: VCD

Der VCD schlägt aber auch einen Sozialtarif für 30 Euro pro Monat sowie ein Jobticket für monatlich 60 Euro vor, das je nach Arbeitgeber-Zuschuss aber auch günstiger sein könnte. Außerdem sollen die Kunden zum Länder-Plus-Ticket auch Upgrades dazu buchen können: für einen weiteren Geltungsbereich wäre ein Aufpreis von 30 Euro fällig, ein deutschlandweit gültiges Ticket soll 135 Euro pro Monat kosten (ermäßigt 90 Euro). Haarmann fordert außerdem, dass Bund und Länder verstärkt in den Ausbau von Bus und Bahn investieren: „Denn dort, wo weder Bus noch Bahn fährt, nutzt auch ein günstiges Ticket nichts.“

365-Euro-Ticket

Hannovers Regionspräsident Steffen Krach (SPD) ist schon mit der Forderung nach einem 365-Euro-Ticket in den Wahlkampf gezogen. Bisher ist dieses Wahlversprechen aber an den hohen Kosten gescheitert, weil sich das Haushaltsdefizit der Region Hannover von zuletzt 72,8 Millionen durch die Einführung glatt verdoppeln würde. Etwas über die Hälfte der ÖPNV-Gesamtkosten von 425 Millionen Euro wird nämlich aus Fahrkartenverkäufen finanziert, ein Betrag, der zum Teil entweder aus Bundes- oder Landesmitteln kompensiert werden müsste. Und mittlerweile Krach ist mit seiner Forderung nach einem 365-Euro-Ticket nicht mehr allein. Auch die Oberbürgermeister Thorsten Kornblum (Braunschweig) und Ulf Kämpfer (Kiel) haben sich der Forderung ihres Parteigenossen angeschlossen.

Quelle: Region Hannover

Die drei SPD-Politiker schätzen die Kosten für ein bundesweit gültiges 365-Euro-Ticket auf etwa 3,5 Milliarden Euro. „Ein bundesweites 365-Euro-Ticket ist verkehrspolitisch, sozialpolitisch und klimapolitisch der richtige Weg“, sagt Krach. Und auch die Landtags-SPD steht hinter der Idee. „Das 365-Euro-Ticket ist eine mögliche Lösung, um schnell zu einer attraktiven Anschlussregelung zu kommen und das Momentum für eine nachhaltige Verkehrswende zu nutzen“, sagt Christoph Bratmann. Für den verkehrspolitischen Sprecher der SPD-Landtagsfraktion steht fest: „Eine Rückkehr zum unübersichtlichen Tarif-Dschungel und Einzelfahrten für über drei Euro innerhalb einer Kommune darf es nicht geben.“

Das Wendland-Ticket

Im Landkreis Lüchow-Dannenberg ist ein 365-Euro-Ticket bereits ab September erhältlich. Das Wendland gehört nämlich zu den zwölf ÖPNV-Modellprojekten, die vom Bundesverkehrsministerium bezuschusst werden. Bis Ende 2024 erhält der Landkreis knapp 5 Millionen Euro, wodurch Lüchow-Dannenberg seine Ausgaben für den öffentlichen Nahverkehr von 5,8 Millionen Euro (2021) auf bis zu 8,5 Millionen Euro (2023) steigern kann. Am Ende bleibt zwar immer noch ein Minus von weit mehr als 3 Millionen Euro für den Landkreis übrig, aber dafür dürfen die Inhaber eines Jahresabos ohne Einschränkungen im gesamten Kreisgebiet und sogar bis nach Salzwedel fahren. Über eine Einbindung in den HVV-Tarif nach Uelzen und Lüneburg wird noch verhandelt. „Gerade in einem dünn besiedelten Landkreis mit großer Fläche ist der ÖPNV eine wichtige Aufgabe und auch eine große Herausforderung“, sagt Landrätin Dagmar Schulz (parteilos).

Freuen sich über das 365-Euro-Ticket in Lüchow-Dannenberg (von links): Sarah Frahm, Mareike Harlfinger-Düpow, Alexandra Reisener und Dagmar Schulz. | Foto: D. Drazewski

Nordländer-Ticket

Auch der niedersächsische Wirtschafts- und Verkehrsminister Bernd Althusmann zählt zu den Fans des 9-Euro-Tickets, das seit seiner Einführung mehr als 38 Millionen Mal verkauft wurde. „Das 9-Euro-Ticket bietet gute Chancen, die Attraktivität des ÖPNV weiter zu erhöhen. Diese Chancen dürfen wir nach dem Auslaufen des Tickets nicht vergeben“, sagt der CDU-Politiker und sieht bei der Umsetzung eigentlich den Bund in der Pflicht. Doch nachdem sich Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) bislang „taub gestellt“ habe, hat Althusmann die Idee eines „Nordländer-Tickets“ ins Spiel gebracht. In den anderen vier Bundesländern stößt ein solcher Alleingang allerdings auf Gegenwird. „Eine norddeutsche Lösung wird ohne den Bund im Boot nicht funktionieren", sagte Schleswig-Holsteins Verkehrsminister Claus Ruhe Madsen (parteilos) gegenüber dem NDR. Dabei hat auch Althusmann immer klar gestellt, dass er den Bund für die Mitfinanzierung in der Pflicht sieht.

Bundesweites Jobticket

Eine ganz andere Lösung schlägt der Internationale Bustouristik Verband RDA vor. „Die Nachfolgeregelung des 9-Euro-Tickets sollte in erster Linie Berufspendler motivieren, zukünftig das Angebot des ÖPNV intensiver zu nutzen, sie darf aber nicht dazu führen, dass Bahnreisen zu Dumpingpreisen zur wirtschaftlichen Belastung für mittelständische Reisebusunternehmen werden“, sagt Verbandspräsident Benedikt Esser und ärgert sich über eine „staatlich subventionierte Wettbewerbsverzerrung zu Lasten der Reise- und Fernbusverkehre“.

RDA-Präsident Benedikt Esser | Foto: RDA

Laut dem RDA-Chef habe das 9-Euro-Ticket bei den Reisebusunternehmen für Umsatzrückgänge von durchschnittlich mehr als 20 Prozent geführt. Esser fordert: „Statt das 9-Euro-Ticket zu höheren Kosten fortzusetzen, sollte ein bundesweit gültiges Jobticket eingeführt werden, das es Berufspendlern zukünftig ermöglicht, deutschlandweit die vielfältigen Bus- und Bahnangebote des ÖPNV für den eigenen Weg zur Arbeit preisgünstig zu nutzen.“

Gewerkschaft: "Belastungsgrenze ist erreicht"

Kritik an der Fortsetzung des 9-Euro-Tickets kommt dagegen von den Gewerkschaften. „Das 9-Euro-Ticket kann so nicht fortgeführt werden. Wir haben eine Fürsorgepflicht, die Belegschaft hat die Belastungsgrenze erreicht und teilweise überschritten“, sagt Martin Burkert, Vizechef der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Langfristig plädieren zwar auch die Eisenbahner für einen kostenlosen ÖPNV. „Vorher muss jedoch zuerst das Angebot und die Kapazitäten flächendeckend ausgebaut werden“, sagt Burkert und spricht sich für ein 365-Euro-Jahresticket aus. Ähnlich äußerte sich auch Claus Weselsky, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Deutschen Lokomotivführer (GDL) in einem Interview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg. „Mit diesem 9-Euro-Ticket, mit dem eigentlich die Pendler entlastet werden sollten, haben wir zusätzlichen Verkehr in die Eisenbahn hineingebracht, zusätzliche Reisenden-Anstürme. Das tut dem System nicht gut, weil es sowieso schon auf Verschleiß gefahren wird“, sagte der GDL-Chef.

Und auch die Verdi-Fachgruppe Busse und Bahnen spricht sich gegen eine „weitere Billiglösung zulasten der ÖPNV-Betriebe“ aus. „Mit dem aktuellen Personalmangel ist ein plötzlicher Mehrbedarf nur schwer aufzufangen. Und volle Züge mit unzufriedenen Fahrgästen wirken abschreckend und sind keine Einladung für die dringend benötigten Stammkunden, nach der Pandemie wieder verstärkt den ÖPNV zu nutzen“, sagt Verdi-Gewerkschaftssekretär Jeremy Arndt. Bevor man über eine Anschlusslösung nachdenkt, müsse man zunächst die Verkehrsbetriebe in die Lage zu versetzen, die Situation auch dauerhaft bewältigen zu können.

Dieser Artikel erschien am 24.8.2022 in Ausgabe #145.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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