„Wehrmachtstraditionen sind nicht das größte Problem der Bundeswehr“
In Hannover hat der Wehrbeauftragte des Bundestags Hans-Peter Bartels für eine engere Zusammenarbeit der Bundeswehr mit den Armeen anderer europäischer Länder geworben. Rundblick-Redakteurin Isabel Christian hat mit ihm gesprochen.
Rundblick: Herr Bartels, Sie bemängeln die desolaten Zustände der Bundeswehr beim Personal und der Ausstattung, sprechen sich aber gleichzeitig dafür aus, die Armeen in Europa enger zusammenarbeiten zu lassen. Unter anderem deshalb, weil es den Streitkräften in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nicht besser geht. Ist das nicht die perfekte Rechtfertigung für die deutsche Politik, um die Ausstattung der Bundeswehr weiter schleifen zu lassen?
Bartels: Wer so denkt, macht die Rechnung ohne die wachsenden Bedrohungen, denen Europa ausgesetzt ist. Wir brauchen beides: Eine zu 100 Prozent ausgerüstete und personell aufgestellte Bundeswehr und ein effektiveres Bündnis. Die europäische Kleinstaaterei mit 28 einzelnen Armeen ist das Gegenteil von effektiv. Alle nationalen Streitkräfte sind erheblich kleiner geworden, und es gibt nicht ansatzweise ein funktionsfähiges Ganzes in Europa. Das gilt für die EU wie für die Nato. Um handlungsfähig zu werden, muss jede Armee einen Beitrag leisten. Damit die Bundeswehr das aber kann, muss das, was auf dem Papier steht, auch wirklich da sein.
Rundblick: Wie ist der Personalbedarf der Bundeswehr?
Bartels: Das Ministerium hat ausgerechnet, dass die Bundeswehr 14.000 zusätzliche militärische Dienstposten braucht. Nicht, um neue Aufgaben zu übernehmen, sondern um die Aufgaben bewältigen zu können, die die Bundeswehr heute hat. Denn heute schon muss sie beides leisten: Auslandseinsätze und die kollektive Verteidigung Europas, wie durch den Ukraine-Konflikt deutlich geworden ist. Bis zum Jahr 2024 sollen nun 12.000 neue Dienstposten entstehen und besetzt werden. Wenn das gelingt, wäre man schon einen großen Schritt weiter.
Rundblick: Das ist ein Dilemma, das der Bundesregierung doch einleuchten muss. Warum tut sie sich dennoch so schwer, Reformen auf den Weg zu bringen?
Bartels: Die Verfahren sind schwerfällig. In 25 Jahren Reduzierung des Personals, des Materials, der Standorte und natürlich des Haushalts hat sich eine Mentalität eingestellt, wonach immer von allem zu viel da war. Jetzt dreht sich das aber um. Jetzt heißt es nicht mehr zu viel, sondern zu wenig, aus Abbau muss Aufbau werden. Das erfordert einen Mentalitätswechsel. Hätte der Bundestag nicht zum Beispiel die Initiative ergriffen, fünf weitere Korvetten für die Marine beschaffen zu lassen – die Bundesregierung hätte es bis heute nicht getan. Die Prozeduren müssen sich ändern. Und auch der Personalaufbau ist unter Druck. Um mehr neue Soldaten auszubilden, müssen Soldaten als Ausbilder aus den aktiven Strukturen herausgezogen werden. Die fehlen wiederum für ihre eigentlichen Aufgaben.
Rundblick: Aus diesem Grund fordern Sie auch eine Reform der Ausbildung. Wie stellen Sie sich das vor?
Bartels: Ich glaube, die neue Koalition wäre gut beraten, eine Ausbildungskommission einzusetzen, die sich möglichst zeitnah das gesamte Ausbildungssystem von der Grundausbildung bis zur Offiziersausbildung anschaut und ermittelt, was davon noch auf die alten Wehrpflichtstrukturen ausgerichtet ist, und was nötig ist, um die Bundeswehr als Freiwilligenarmee attraktiver zu machen. Ein Beispiel: In der Bundeswehr sind 13 Prozent der Dienstposten für Akademiker vorgesehen. Unter den heutigen Schulabgängern gibt es aber über 50 Prozent, die eine Hochschulzugangsberechtigung erworben haben, etwa die Hälfte eines Jahrgangs will ein Studium aufnehmen. Wo bleiben diese Leute in der Bundeswehr? Oder verzichtet man auf sie? Ich glaube, dass die Bundeswehr dem gerecht werden muss und mehr Möglichkeiten zum Studium schaffen sollte. So könnte etwa für einen Teil der Feldwebel ein Bachelorstudium sinnvoll sein.
Rundblick: Aber die Bundeswehr ist ja nicht nur Anlaufstelle für Abiturienten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie auch viele Bewerber anlockt, die auf dem regulären Arbeitsmarkt gescheitert sind. Und immer wieder zeigt sich, dass deren Vorstellungen und die Realität bei der Bundeswehr so gar nicht zusammenpassen…
Bartels: Ganz allgemein: Es wäre schlecht, wenn die Bundeswehr immer mehr Leute bekäme, die sie eigentlich nicht brauchen kann. Schließlich ist es eine Aufgabe der Personalgewinnungsorganisation, dafür zu sorgen, dass das Personal nach einheitlichen, hohen Standards gewonnen wird. Bei Offizieren ist das immer noch relativ einfach, da kommen auf eine zu besetzende Stelle sechs Bewerber. Bei Mannschaften ist das Verhältnis dagegen 1,4 Bewerber pro Stelle. Aber ich glaube nicht, dass darin ein unlösbares Problem liegt. Denn die Bundeswehr hat die Möglichkeit, ihre Soldaten berufsbegleitend auszubilden und ihnen das beizubringen, was sie können sollen. Sie müssen nicht alles schon mitbringen. Bei der Bundeswehr kann man eine Lehre machen, einen Schulabschluss nachholen, Fremdsprachen lernen. Oder eben körperliche Fitness erwerben. Nach mehreren Unfällen auf dem Segelschulschiff Gorch Fock hat man zum Beispiel gemerkt, dass junge Leute heute andere körperliche Voraussetzungen haben als noch vor 20 Jahren. Es gibt welche, die sind extrem leistungsfähig und trainieren jeden Tag, und bei anderen fehlt es einfach an einer Grundfitness. Deshalb gibt es mittlerweile für einen Teil der Marineoffiziersanwärter ein zusätzliches Fitnesstraining, bevor es aufs Schiff geht.
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Rundblick: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat nach der Enttarnung des rechtsextremistischen Soldaten Franco A. mit mehreren Aktionen gegen Rechtsextremismus bei der Bundeswehr für Aufsehen gesorgt. Unter anderem hatte sie gefordert, die Lent-Kaserne in Rotenburg müsse umbenannt werden, weil der Namensgeber im Dritten Reich ein erfolgreicher Pilot gewesen war. Die Kommune und die Soldaten sind gegen eine Umbenennung. Wie stehen Sie dazu?
Bartels: Ich will keine Gutachten zu einzelnen Kasernennamen abgeben. Ich glaube aber, die Diskussion um ungeeignete Namen aus der Zeit des Dritten Reichs und der Wehrmacht ist inzwischen beinah an ihrem Ende angelangt. In den Sechzigern hatte die Debatte noch einen ganz anderen Stellenwert. Da gab es noch Traditionsräume in Kasernen, wo das Erbe von Wehrmachtsdivisionen gepflegt wurde – mit allen dazugehörigen Ausstellungsstücken. Davon ist aber so gut wie nichts Problematisches mehr da. Die Bundeswehr hat inzwischen ihre eigene Tradition, es ist in 60 Jahren eine Menge Historie dazugekommen, die sich bisher in der Traditionspflege fast gar nicht niederschlägt. Deshalb finde ich den Ansatz von Frau von der Leyen gut, an den Traditionserlass von 1982 heranzugehen. Aber ich glaube nicht, dass Wehrmachtstraditionen oder Devotionalien aus der NS-Zeit jetzt das größte Problem der Bundeswehr sind.
Rundblick: In dieser Zeit war von einer Vertrauenskrise zwischen der Bundeswehr und Verteidigungsministerin von der Leyen die Rede. Ist die Krise mittlerweile überstanden?
Bartels: Das Vertrauensverhältnis ist durch die Diskussion dieses Jahres schwer belastet. Frau von der Leyen hat das auch erkannt und versucht, mit vielen Veranstaltungen und Besuchen auf die Soldaten zuzugehen und eine gemeinsame Basis wiederherzustellen. Vertrauen ist eine Grundkategorie von Führung, wenn wir also über Innere Führung reden, reden wir über wechselseitige Vertrauensverhältnisse. Man muss immer daran arbeiten, dass dieses Vertrauensverhältnis intakt ist.
Rundblick: Also ist es Frau von der Leyen aus Ihrer Sicht noch nicht gelungen, das Vertrauensverhältnis wiederherzustellen?
Bartels: Da muss man die Soldaten fragen. Ein Schaden ist jedenfalls entstanden, und jetzt wird offensichtlich daran gearbeitet, den zu reparieren.
Rundblick: Sollte künftig jemand anderes außer Frau von der Leyen das Verteidigungsministerium führen: Welche Eigenschaften sollte diese Person mitbringen?
Bartels: Es muss ein politisches Schwergewicht sein, und er oder sie muss die Trendwendebeschlüsse voll umsetzen. Nicht wieder bei Null anfangen! Kurs halten! Und Tempo machen! Man wird sich in der nächsten Legislaturperiode vor allem politisch darum kümmern müssen, dass die Finanzierung der Bundeswehr stimmt. Im Moment sind wir bei einem Anteil von 1,2 Prozent unseres Bruttosozialprodukts. Die zwei Prozent, die man in der Nato vereinbart hat, wird Deutschland kurzfristig nicht brauchen. Aber wenn man sich in dieser Wahlperiode auf eine zügige Anhebung der Quote auf 1,5 Prozent einigte, dann könnte man mit dem zusätzlichen Geld die angesprochenen Lücken ziemlich umfassend stopfen. Dann wäre die Bundeswehr richtig aufgestellt für das, was sie heute können muss.