Im Juni wollte die niedersächsische Bundestagsabgeordnete Mareike Wulf (CDU) in Göttingen an der Universität einen Vortrag halten, doch linke Aktivisten ließen sie nicht zu Wort kommen. Der Vorgang schlug hohe Wellen, Landtag und Bundestag debattierten über die Meinungsfreiheit an deutschen Hochschulen. Doch was hat Mareike Wulf an jenem Abend in Göttingen nun eigentlich sagen wollen? Wer das erfahren möchte, kann sich einfach anhören, was sie nur einen Tag zuvor in Hannover geäußert hat. Denn am Dienstag vor ihrem geplanten Auftritt an der Universität war Wulf zu Gast im „Explanatorium“ der Volkswagenstiftung. Im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen diskutierte sie unter der Moderation von Journalist Axel Rahmlow von Deutschlandfunk Kultur mit dem Buch-Autor Till Randolf Amelung und dem Sexualwissenschaftler Prof. Heinz-Jürgen Voß über ebenjene Fragen rund um Geschlecht, Genderstreit und Selbstbestimmung, über die sie tags darauf in Göttingen nicht mehr das Wort ergreifen durfte. Was dort gesagt wurde, haben sich die Gäste im Auditorium gelassen angehört – man kann es zudem jederzeit im Internet nachschauen.

Mareike Wulf | Foto: Screenshot/nkw

Das Selbstbestimmungsgesetz werde von den Befürwortern als Meilenstein, von den Gegnern als gefährlich bezeichnet, beginnt Moderator Rahmlow das Gespräch. Vorwürfe und Hass bestimmten die Diskussion, gemeinsam wolle man nun darüber reden, wie man diesem Hass entgegenwirken könne, sagt er. Ein bezeichnender Einstieg angesichts dessen, was einen Tag später folgen sollte. Warum aber beschäftigt sich eigentlich Mareike Wulf mit diesem so umstrittenen Selbstbestimmungsgesetz, das die Ampel-Fraktionen beschlossen haben und das im November in Kraft tritt? „Das ist ein schwieriges Thema, CDU-Politiker reißen sich nicht gerade darum“, bekennt die 44-Jährige. Sie habe allerdings eine eigene Erfahrung dazu, in der Schule habe sie jemanden gekannt, der sein Geschlecht geändert hat.

Für Wulf ist dennoch klar: „Wir leben in einer Gesellschaft, die darauf beruht, dass es zwei Geschlechter gibt – danach ist alles organisiert“, sagt sie. Für 99,5 Prozent der Menschen sei das die Normalität und „es ist für mich nicht absehbar, dass sich dieses Verständnis in der gesamten Breite irgendwie auflöst“. Als Beleg für die Relevanz der zweigeschlechtlichen Ordnung führt die CDU-Politikerin einen Trend auf der Bild- und Video-fixierten Social-Media-Plattform „Instagram“ an, wo junge Paare ein Spektakel daraus machten, das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes zu verkünden. „Es ist einfach eine Realität, dass wir mit männlichen und weiblichen Körpern leben und dass Geschlecht natürlich eine biologische Fundierung hat“, sagt Wulf, nur um sofort anzufügen: „Und gleichzeitig gibt es Menschen, die transgeschlechtlich sind.“ Ihre Anzahl sei zwar gering, durch das Transsexuellengesetz (TSG) aus den 1980er Jahren sei dieser Umstand allerdings bereits anerkannt worden – mit einem einstimmigen Votum des Bundestags.

Mareike Wulf | Foto: Screenshot/nkw

Das Selbstbestimmungsgesetz von heute sei dem Wesen nach dasselbe wie das TSG, bloß die Hürden fielen heute deutlich geringer aus, erläutert Wulf. Es sei allerdings eine Radikalisierung bei der Thematik festzustellen: Bestimmte Gruppen meinten, man müsse die Zweigeschlechtlichkeit komplett aufgeben, um eine tolerante Gesellschaft werden zu können. „Ich glaube, da entsteht bei vielen Menschen einfach Widerstand“, sagt Wulf und sieht die Aufgabe von Politikerinnen wie sich selbst darin, „Brücken zu bauen und Wege zu finden, eine tolerante Gesellschaft zu sein.“ Dazu gehöre es „auf der einen Seite zu akzeptieren, dass Menschen unterschiedlich und anders sind, auf der anderen Seite uns aber auch einzugestehen, dass wir Männer und Frauen in unserer Gesellschaft haben, dass das für uns Grundlage ist dafür, wie wir unser Leben organisieren.“

„Der erste Punkt, der uns bei diesem Gesetz gestört hat, war dieser Begriff ‚Selbstbestimmungsgesetz‘.“

Mareike Wulf (CDU)

Sprache spiele in der Debatte eine wichtige Rolle, sagt Moderator Rahmlow und erklärt, er habe sich mit zahlreichen Begriffsdefinitionen auf diese Diskussionsrunde vorbereitet, um nicht in irgendein Fettnäpfchen zu treten. Auch für Mareike Wulf sind die Wörter wichtig: „Der erste Punkt, der uns bei diesem Gesetz gestört hat, war dieser Begriff ‚Selbstbestimmungsgesetz‘.“ Dadurch werde suggeriert, dass Geschlecht etwas sei, das vollkommen selbst bestimmt wird. „Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen hier im Raum ist: Ich habe mir mein Geschlecht nicht selbst ausgesucht, ich wurde so geboren“, sagt Wulf. „Auch viele transgeschlechtliche Personen, mit denen ich gesprochen habe, sagen: Wenn ich mein Schicksal hätte wählen können, hätte ich wahrscheinlich einen anderen Weg genommen.“ Einen weniger harten Weg, meint sie.

Sie könne zwar verstehen, woher der Wunsch nach Selbstbestimmung rühre: „Der Titel kommt daher, dass Transmenschen sich durch das TSG vom Staat fremdbestimmt gefühlt haben, sie wollten selber bestimmen.“ Doch ihr geht das nun zu weit: „Wenn wir jetzt aber ein Selbstbestimmungsgesetz bekommen, durch das jeder voraussetzungslos seinen Geschlechtseintrag ändern kann, suggeriert das allen: Wir müssen jetzt nochmal über unser Geschlecht nachdenken, auch gerade bei Kindern und Jugendlichen.“ Das sei eine Vorstellung von Geschlecht, die sie und viele in ihrer Fraktion so nicht teilten.

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Dem widerspricht in vielen Punkten der Sexualwissenschaftler Prof. Voß. So sei Selbstbestimmung an sich ein wichtiges Instrument, um sexualisierte Gewalt zu verhindern. Aus seiner Sicht sei es zudem der größte Skandal, dass der Bundestag erst zwölf Jahre, nachdem das Bundesverfassungsgericht das ursprüngliche TSG in Teilen für verfassungswidrig erklärt hat, eine Einigung zur Neufassung erzielen konnte. Doch was genau wurde dabei eigentlich vom Verfassungsgericht kassiert? Dass sich Menschen vor der Änderung des Geschlechtseintrags sterilisieren und scheiden lassen mussten, wurde von Karlsruhe damals beanstandet, erläutert Autor Amelung. Unbeanstandet blieb derweil das Gutachter-Verfahren, also die Pflicht zwei bis vier psychologische Untersuchungen über sich ergehen zu lassen, bevor man den Schritt zur Änderung des Geschlechtseintrags gehen kann. Aus Sicht sowohl von Amelung als auch von Wulf war diese Maßnahme, die künftig wegfallen soll, allerdings sinnvoll.

„Es braucht den Weg, den Geschlechtseintrag rechtssicher ändern zu können.“

Mareike Wulf (CDU)

Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sei die Frage entscheidend gewesen, welche Verantwortung der Staat in dieser Angelegenheit trage. Dazu zählt für Wulf eindeutig: „Es braucht den Weg, den Geschlechtseintrag rechtssicher ändern zu können.“ Dass dazu aber insbesondere bei Minderjährigen auch Gutachten und Beratung durch Dritte gehören, daran will sie nicht rütteln lassen. Es brauche eine Phase des Ausprobierens, eine Alltagsprobe, sagt Wulf. Das neue Gesetz sieht vor, dass drei Monate nach Anzeige beim Amt der Geschlechtseintrag geändert werden darf. Anschließend wird es eine einjährige Pause geben, bevor eine erneute Änderung möglich wird. Wulf meint, es brauche dabei mehr Nachhaltigkeit, eine geprüfte Entscheidung und die nötige Ernsthaftigkeit – sonst führe das zu einer „Banalisierung des Geschlechtseintrags“. Das alles seien aber „zumutbare Hürden“, so Wulf.

„Ich halte es für falsch, Panik zu schüren.“

Mareike Wulf (CDU)

Hürden wünscht sie sich nicht nur zum Schutz von Minderjährigen vor sich selbst oder vor deren Eltern, die aus ideologischen Gründen das Geschlecht des Kindes auf „divers“ setzen lassen könnten. Hürden brauche es aus Wulfs Sicht auch zum Schutz vor Kriminellen, die mithilfe einer Änderung des Geschlechtseintrags ihre Identität verschleiern könnten. „Ich halte es für falsch, Panik zu schüren“, sagt sie. Das Gesetz ermögliche aber natürlich auch Trittbrettfahrer. Die Politik müsse das bedenken. Insbesondere die Innenpolitiker hätten darauf hingewiesen, dass Geschlecht und Name wesentliche Merkmale seien, wenn man nach Personen sucht.

Ganz ähnliche Sorgen treiben übrigens auch Niedersachsens Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) um. Überhaupt war das Selbstbestimmungsgesetz auch in der Ampel-Koalition kein Selbstläufer. Die Unionsfraktion im Bundestag erwägt zudem, bestimmte Entwicklungen wieder zurückzudrehen, sollte sie an der nächsten Regierung beteiligt sein. Dass über das Für und Wider der Neuregelung öffentlich diskutiert wird, sollte deshalb doch selbstverständlich sein.