Ausgebuhte Mareike Wulf erfährt Zuspruch in Hannover, aber in Berlin nur begrenzt
Der Vorfall ist drastisch – und er schlägt hohe Wellen wohl auch deshalb, weil es in den vergangenen Monaten mehrere ähnlicher Ereignisse an deutschen Universitäten gab. Die CDU-Bundestagsabgeordnete Mareike Wulf aus Hameln/Holzminden, die zum liberalen Flügel ihrer Partei zählt, wollte am 19. Juni einen Vortrag mit Diskussion in der Universität Göttingen halten. Eingeladen hatte der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), die Veranstaltung war öffentlich. Es ging um das neue Selbstbestimmungsgesetz, das in der Ampel-Koalition entwickelt wurde und das trans-, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen einen neuen Geschlechtseintrag erleichtern soll. Zu dem Vortrag der CDU-Abgeordneten kam es jedoch nicht, da Demonstranten vor dem Hörsaal, draußen und in den Sitzreihen die Politikerin niedergebrüllt hatten. Die Grüne Jugend Göttingen und die Linksjugend in Göttingen hatten zu den Protesten aufgerufen und Wulf diffamiert als Abgeordnete, die „transfeindlich gehetzt“ habe – was definitiv nicht der Fall ist.
Die CDU reagiert empört – und verlangt eine Aufarbeitung. Welcher intolerante Ungeist macht sich inzwischen an deutschen Universitäten breit? Wieso konnte die Polizei nicht sicherstellen, dass die Störer in die Schranken gewiesen werden und die freie Meinungsäußerung in der öffentlichen RCDS-Versammlung gewährleistet wurde? Im Bundestag beantragte die CDU/CSU-Fraktion für den 26. Juni eine aktuelle Debatte über den Fall, im Landtag hörte sich der Innenausschuss am 27. Juni einen Bericht der Polizei und eine Einschätzung des Wissenschaftsministeriums an.
Dabei fielen Unterschiede auf: Während im Landtagsausschuss Sprecher aller Fraktionen ihre Solidarität mit Wulf erklärten und das Vorgehen der Demonstranten verurteilten, war das bei den Rednern im Bundestag nicht so. Das reizte dort die CSU-Politikerin Dorothee Bär zu der Bemerkung, gerade die Grünen würden Toleranz nur gegenüber Gleichgesinnten vertreten und seien nicht in der Lage, das Niederbrüllen einer Abgeordneten zu verurteilen.
Zunächst zu den näheren Umständen, soweit sie sich jetzt herausschälen: Tage vor dem Termin schätzte die Polizei, es würden bis zu 50 Demonstranten kommen. Dass sie versuchen würden, in den Saal zu gelangen oder ihn sogar zu stürmen, wurde als unwahrscheinlich bezeichnet, berichtet Referatsleiterin Carmen Scholze aus dem Innenministerium. Besprochen wurde, den Saal kurzfristig zu verlegen, damit Störer sich nicht davor postieren können.
Wie Wulf erklärt, hatte die Uni sogar angeboten, die Diskussion nur für RCDS-Mitglieder zugänglich zu machen. „Das habe ich aber abgelehnt“, betont Wulf, „ich wollte ja die öffentliche Diskussion“. Eine halbe Stunde vor Beginn hatten sich dann schon rund 150 Demonstranten eingefunden. Einige hatten sich an den Fenstern im Hinterhof postiert, andere am Eingang. Wenig später ging der Protest mit Trillerpfeifen, Trommeln und Buh-Rufen los. Die Demonstranten draußen schlugen gegen die Fenster.
„Die Lautstärke war so hoch, dass wir Platzverweise gar nicht mehr aussprechen konnten.“
„Die Lautstärke war so hoch, dass wir Platzverweise gar nicht mehr aussprechen konnten“, schildert Scholze. Deshalb brach die Polizei drei Minuten nach dem offiziellen Beginn um 16.30 Uhr die Veranstaltung ab und geleitete Wulf mit Polizeischutz nach draußen. Die CDU-Politikerin musste sich vorher Rufe „Halt die Fresse!“ und „Ohne Mikro bist Du nichts“ anhören. Körperverletzungen und Sachbeschädigungen gab es laut Polizei nicht, Wulf sagt, sie habe den Protest als „verbale Gewalt“ empfunden. Vor Ort waren fünf Polizisten, zur Unterstützung wurde dann noch ein Funkstreifenwagen gerufen.
Stephan Bothe (AfD) und Colette Thiemann (CDU) erkundigten sich, ob die Polizei nicht die Gefahr unterschätzt habe und noch mehr Unterstützung hätte anfordern müssen, um den Ablauf der Diskussion zu sichern. Scholze antwortete, man habe im Vorfeld nicht gewusst, dass die Störer die Diskussion tatsächlich verhindern wollten.
Ist das nun glaubwürdig? Berichtet wird in Göttingen über Handlungsanweisungen für das Verhindern von Veranstaltungen, die wohl auch hier zum Tragen kamen. Zunächst müsse Wulf als „transfeindlich“ diffamiert werden, dann müsse gegen sie mobilisiert werden, im nächsten Schritt müsse die CDU-Politikerin niedergeschrien werden – und schließlich sei das Ziel, die Veranstalter zum Abbruch zu zwingen. „Mit der Regenbogen-Fahne, einem Symbol für Toleranz, wird hier die Intoleranz durchgesetzt“, beklagt sich Wulf.
Und wie ist die politische Debatte darüber? Im Innenausschuss sind sich Ulrich Watermann (SPD), André Bock (CDU), Nadja Weippert (Grüne) und Stephan Bothe (AfD) einig: „Ein solches Vorgehen, wie es Mareike Wulf erfahren hat, ist absolut inakzeptabel.“ Referatsleiter Stefan Jungeblodt aus dem Wissenschaftsministerium trägt eine längere Stellungnahme vor, in der zunächst Verständnis gezeigt wird – studentischer Protest sei legitim und er „muss auch nicht immer leise sein“. Dann fügt er aber hinzu, ein respektvoller Umgang miteinander sei auch an Hochschulen wichtig, anders sei der freie Diskurs dort nicht möglich. Alles in allem lautet das Signal aus dem Landtags-Innenausschuss also: Verständnis für die Proteste gegen Wulf wird nicht laut, auch die Grünen verteidigen das Agieren der Grünen Jugend in Göttingen nicht.
Ist das nun auch in Berlin ähnlich? Offensichtlich nicht, denn in der am Tag zuvor geführten „aktuellen Debatte“ im Bundestag waren ganz andere Akzente zu vernehmen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beantragte eine Aussprache, da der Vorfall in Göttingen in einer Reihe steht mit ganz vielen Ausschreitungen an Universitäten – jüngst vor allem mit antisemitischer Prägung. Schon seit Jahren kommt es vor, dass Hochschullehrer ihre Vorlesungen nicht halten können, da ihre Angebote boykottiert oder mit lautstarken Protesten übertönt werden. Wie stehen nun die Fraktionen im Bundestag dazu? Würde Wulf aus den Parteien der Ampel-Koalition Solidarität erfahren? Die CSU-Politikerin Bär beklagt sich, dass weder die Antidiskriminierungsbeauftragte noch der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, Wulf verteidigt hätten.
„SPD und Grüne ducken sich schweigend weg, wenn eine Kollegin mundtot gemacht wird.“
Als Redner tritt Oliver Kaczmarek (SPD) und spricht vom „schwierigen Spannungsfeld“ der Hochschulen zwischen studentischen Protestformen und Meinungsvielfalt, er lobt die Proteste der 68er Bewegung an den Universitäten und verliert kein Wort des Bedauerns über Wulfs Erfahrungen. Seine Fraktionskollegin Lina Seitzl rückt das wenig später dann wieder etwas gerade. Die Grünen-Abgeordnete Marlene Schönberger kommt zu der Bemerkung, die Politiker der Union seien schuldig an einer zugespitzten Debatte über das Selbstbestimmungsgesetz, das sie ständig angreifen“ würden. Das wiederum fassen Abgeordnete der Union so auf, als werde nun dem RCDS und Wulf die Schuld für die Eskalation in der Veranstaltung zugeschrieben. „SPD und Grüne ducken sich schweigend weg, wenn eine Kollegin mundtot gemacht wird“, rügt Nadine Schön (CDU). Sven Lehmann meldet sich ganz am Ende der Aussprache und meint: Es vergehe kein Tag ohne die Verächtlichmachung des Selbstbestimmungsgesetzes – und bisher habe er die Union nicht so erlebt, dass sie sich gegen dieses Verhalten gestellt habe.
So gibt es kurz vor der parlamentarischen Sommerpause zwei gegensätzliche Entwicklungen als Nachbereitung des Göttinger Vorfalls: Im Bundestag in Berlin tun sich Politiker von SPD und Grünen sichtlich schwer, das Verhalten der Demonstranten in Göttingen scharf zu verurteilen. Im Landtag in Hannover, wo sich die Innenpolitiker mit dem Ereignis befassen, ist das anders – hier überwiegt ganz klar die Distanzierung. Von der Grünen Jugend hingegen, die in Göttingen mit zu den Scharfmachern zählte, ist keine Verlautbarung zu diesem aktuellen Streit überliefert.
Dieser Artikel erschien am 28.06.2024 in der Ausgabe #119.
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