Dass die beiden sich nahe gestanden hätten, kann man wohl nicht sagen. Vermutlich war ein vertrautes Gespräch zwischen ihnen eher schwierig, denn sie sendeten und empfingen ihre Nachrichten auf höchst unterschiedlichen Wellenlängen. Dabei starteten sie ihren Lebensweg mit Gemeinsamkeiten: Peter von Oertzen, Spross einer bildungsbürgerlichen Familie, und der Landwirtssohn Wilfried Hasselmann aus dem Kreis Celle wurden beide 1942 als 18-Jährige in den Krieg gezogen. Beide galten als Anhänger des Systems, Hasselmann beantragte sogar die Aufnahme in die NSDAP. Das Kriegserlebnis muss für beide prägend gewesen sein – und beide verstanden es nach 1945 auf ihre Weise als einen Auftrag, in der neuen Bundesrepublik die Demokratie aufzubauen und den Frieden zu sichern.

Peter von Oertzen und Wilfried Hasselmann | Montage: Rundblick, Quellen: Bundesarchiv, B 145 Bild-F047045-0019 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5664541; Von Bundesarchiv, B 145 Bild-F048686-0028 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5456957

In diesem Jahr, 2024, wären beide 100 Jahre alt geworden. Es sind zwei große Landespolitiker aus den beiden großen Parteien des Landes, der SPD und der CDU. Sie sind für die Geschicke Niedersachsens von großer Bedeutung gewesen, obwohl beide nie Ministerpräsidenten geworden sind. Ihre nachhaltige Bedeutung für die Gesellschaft haben beide, und beide strahlen dabei über die Anhängerschaft ihrer eigenen Parteien hinaus. Aber: Es sind höchst unterschiedliche Prägungen, denn ihre Eigenschaften waren gegensätzlich, fast unvereinbar. Charisma hatten beide – und zwar sehr stark. Wilfried Hasselmann blieb in seinem landwirtschaftlich dominierten Umfeld, übernahm nach dem Krieg den elterlichen Bauernhof, engagierte sich bei der Landjugend und in landwirtschaftlichen Gremien. 1965 wurde er Landwirtschaftsminister in der Großen Koalition, drei Jahre später – mit 44 – wählte ihn die CDU zum neuen Landesvorsitzenden. Das war damals nicht nur ein Generations-, sondern auch ein Politikwechsel: Die Zeit der alten Honoratioren, die in Hinterzimmern ihre Politik verabredeten, war jetzt vorbei. Die CDU unter Hasselmann wurde zur Mitglieder- und Kampagnenpartei, sie öffnete sich für breitere Schichten und zur Mitte. Erst mit Skepsis, später dann mit entschiedener Ablehnung begegnete Hasselmann Versuchen in der CDU, mit Überläufern aus der rechtsextremen NPD die Macht an sich zu reißen.

In gewisser Weise war es bei von Oertzen ähnlich. Nach dem Krieg ging er an die Uni, engagierte sich beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund und wurde 1963 Politikprofessor in Göttingen. Vier Jahre zuvor zählte er beim SPD-Bundesparteitag zu der Minderheit, die das „Godesberger Programm“ als Hinwendung zum Konzept der sozialen Marktwirtschaft ablehnten. Von Oertzen, damals Anhänger eines Konzeptes der Rätedemokratie, hatte andere Vorstellungen von der Demokratisierung der Wirtschaft. Die Konservativen in der SPD, die damals in Niedersachsen die Macht in der Hand hatten, grenzten ihn lange aus. Doch auch in der SPD ging ein Generationswechsel voran, er war vermutlich viel stärker als in der CDU auch von einem Links-Rechts-Gegensatz geprägt. Von Oertzen verdrängte 1970 den langjährigen Vorsitzenden Egon Franke von der Spitze des SPD-Bezirks Hannover, damit war er de facto Landesvorsitzender der SPD. Das geschah zwei Jahre nach Hasselmanns Aufstieg bei der CDU. Antrieb für den jungen Sozialdemokraten war seinerzeit die Veränderung der Gesellschaft, er verstand sich als Speerspitze der Linken und ging somit auch gegen seine eigene Biographie an, gegen die NS-Begeisterung, die er als junger Mann hatte, aber wohl auch gegen die rechtsextreme Orientierung des eigenen Vaters. Von Oertzen wurde Kultusminister, gründete die Universitäten in Oldenburg und Osnabrück, berief linke Professoren und schrieb Reformprogramme. Bei Hasselmanns Freunden von der CDU wurde er längst zum Feindbild.

Wäre die Geschichte hier zu Ende, dann wären beide wohl wenige von mehreren gewesen, jedenfalls keine herausragenden Politiker des Landes. Aber es kam anders. Von Oertzen blieb nur vier Jahre Kultusminister. Obwohl er der Kopf der Linken in der SPD war, sah er die von manchen seiner Genossen angepeilte Öffnung gegenüber der SED in der DDR höchst kritisch. Er war auch gegen Hausbesetzungen, da sie das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellten. Er blieb viele Jahre nach der Ministerzeit als Abgeordneter ein überaus kluger, an tiefgreifenden Debatten sehr interessierter Mensch – und war damit ein parlamentarisches Vorbild. Intellektualität, geistiges Esprit und die Gabe zum offenen wissenschaftlichen Disput zeichneten ihn aus. Damit war er beides zugleich: Wegbereiter für Reformen und Erneuerung in der SPD, zugleich Garant für die Stabilität und Lebendigkeit des Parlamentarismus, den er doch lange sehr skeptisch gesehen hatte. Den Sprung nach ganz oben, zum Amt des Ministerpräsidenten, hat er sich nie zugetraut. Vielleicht, weil er wusste, dass er in einer solchen Position zu viele Kompromisse hätte machen müssen?

Intellektuelle Schärfe, Brillanz in der Formulierung – das waren nicht Hasselmanns Stärken. Er redete eine einfache Sprache, konnte dafür wie kein anderer auf Menschen zugehen und sie für seine Botschaften erreichen. Konflikte wie von Oertzen in der SPD hatte Hasselmann auch in der CDU zu bestehen, die Gegnerschaft beruhte aber viel stärker auf Landsmannschaften und Konfessionen, der Protestant Hasselmann aus dem Celler Land hatte es vor allem mit den Katholiken aus dem Bereich Osnabrück-Emsland schwer, sie rüttelten an seiner Autorität. Wochen vor der Landtagswahl am 9. Juni 1974 hatte es so ausgesehen, als würde die CDU mit Hasselmann als Spitzenkandidat siegen. Doch dann trat einen Monat vor der Wahl Kanzler Willy Brandt zurück, Helmut Schmidt übernahm das Amt und der bundesweite Tiefflug der SPD wurde gebremst. Am Wahlabend lag die SPD/FDP-Koalition knapp vor der CDU – und Hasselmann wusste, dass jetzt die parteiinternen Kämpfe um ihn ausbrechen würden. Irgendwann in den Monaten danach musste die CDU die Chance erkannt haben, die im geplanten Ministerpräsidentenwechsel der SPD gelegen hatte. Als Alfred Kubel dann im Januar 1976 zurücktrat und die SPD/FDP-Koalition in geheimer Wahl Helmut Kasimier aufs Schild heben wollte, präsentierte die CDU Ernst Albrecht als jungen, frisch wirkenden Neueinsteiger – und prompt schaffte dieser es, in der geheimen Wahl Stimmen aus der SPD/FDP-Koalition zu sich herüberzuziehen. Verzichtete Hasselmann, weil er wusste, dass er wohl nicht die geschlossene Unterstützung der eigenen Leute bei dieser Wahl 1976 bekommen hätte? Viel spricht dafür.



Hasselmann blieb danach 14 Jahre lang loyal zu Albrecht, die CDU konzentrierte ihr Profil auf den Ministerpräsidenten – aber der Erfolg, der bei den drei folgenden Landtagswahlen 1978, 1982 und 1986 für die Christdemokraten erreicht wurde, fußte zu einem ganz wesentlichen Teil wohl auf der stets offenen, freundlichen und zugewandten Art Hasselmanns, dessen Wahlkampfstil ein absolutes Erfolgskonzept gewesen war.

Der persönliche Ruhm, die Befriedigung der Eitelkeiten – das sind Triebfedern, die für Hasselmann und von Oertzen offenbar weniger galten. Der alte Peter von Oertzen liebte es, am Telefon die nationale Lage zu analysieren – und man hörte ihm gern zu. Als 80-Jähriger verließ er die SPD 2005, wohl aus Protest gegen die Hartz-Reformen des von ihm anfangs geförderten, später mit großer Skepsis beäugten Kanzlers Gerhard Schröder. Der intellektuelle Disput blieb sein Antrieb. Hasselmann musste 1988 als Innenminister zurücktreten, weil er im Spielbank-Untersuchungsausschuss ein Detail nicht korrekt wiedergegeben hatte. Eine Dummheit vermutlich, weniger in der Absicht, etwas vertuschen zu wollen. Er blieb einfacher Abgeordneter, wurde dann Ehrenvorsitzender der CDU. Im hohen Alter widmete er sich wieder der Landwirtschaft, half Bauern, hörte sich ihre Probleme an und warb für ihre Interessen. Da war er wieder ganz in seinem Element, als Zuhörer und Kümmerer.

Das waren zwei außergewöhnliche Persönlichkeiten mit prägender Kraft für die Landespolitik – bis heute.