Das Problem rollt wie eine demographische Lawine auf Deutschland zu: Die Generation der Babyboomer geht demnächst in den Ruhestand. In wenigen Jahrzehnten werden sie Pflege benötigen. Dem stehen immer weniger Berufstätige gegenüber, die sie pflegen könnten. Bereits jetzt sind rund 500.000 Stellen in der Pflege unbesetzt, davon etwa ein Fünftel in der Altenpflege. Diese Zahlen stellte Gudrun Nolte, Bundesvorsitzende des Evangelischen Verbands Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt (KWA), beim Forum „Altenpflege Mittendrin“ in Hannover vor.
Der Verband hat Experten aus Praxis und Wissenschaft eingeladen, um innovative Ideen zu sammeln, was die Pflege-Krise entschärfen kann – und wie Quartiere und Dörfer ihre Senioren besser unterstützen können. Der KWA versteht sich als Impulsgeber für die Synode und die Kirchenleitungen der EKD, von wo aus die Impulse an die Kirchenbasis durchsickern sollen. Alle Gemeinden, erklärt Nolte gegenüber dem Rundblick, fragen sich derzeit, wie sie sich in den Quartieren besser vernetzen können.

Drei Lösungsansätze für die Pflege-Krise wurden beim Forum „Altenpflege Mittendrin“ erkennbar:
Wer in der dänischen Kommune Sonderburg 75 Jahre alt wird, bekommt Post von der Gemeinde. Darin wird gefragt: „Brauchen Sie Hilfe?“ In diesem Alter weisen das die meisten Senioren noch empört zurück. Deswegen kommt fünf Jahre später wieder ein Brief. „Bei uns in Dänemark sind das Gesundheitswesen und die Altenpflege kommunale Aufgaben“, erklärt Kirsten H. Bachmann, Kommunalpolitikerin und Krankenschwester in Sonderburg.
Die Kommunen haben ein hohes Interesse, die Verweildauer in stationären Einrichtungen kurz zu halten, um Kosten zu sparen. Das entspricht auch dem Wunsch der Senioren, die am liebsten in ihren Dörfern bleiben möchten. Jetzt hat die Gemeinde Sonderburg das Programm „Komm sicher und geborgen nach Hause“ aufgelegt. Es stellt sicher, dass Senioren nach einem Krankenhaus-Aufenthalt ambulant gut versorgt werden. In den ersten 72 Stunden nach der Entlassung sind die Klinikärzte weiterhin zuständig. Die Akutkrankenpflege kommt dreimal täglich vorbei und ist autorisiert, die Patienten – wenn nötig – in eine Kurzzeitpflege einzuweisen.
„Es braucht ein ganzes Dorf, um in Würde alt zu werden“, sagt Lucia Eitenbichler, Leiterin des Ursulinenhofes in Oberried, in Abwandlung eines viel zitierten Sprichwortes. Doch die Wirklichkeit sieht meistens anders aus: Mehr als die Hälfte der Pflegebedürftigen in Deutschland wird von Angehörigen gepflegt – die Unterstützung oft bitter nötig hätten. Das Pflegesystem in Dänemark und den Niederlanden funktioniert genau umgekehrt: Hier wird von den Angehörigen keinerlei Mitarbeit verlangt. Doch in einer alternden Gesellschaft wird auch in Dänemark diskutiert, das zu ändern, berichtet Kirsten H. Bachmann. Was es hier bereits gibt: ein Netzwerk von Ehrenamtlichen, die Aufgaben über die Leistung der Kommunen hinaus übernehmen. Sie räumen zum Beispiel die Wohnung um, damit das Pflegebett Platz findet.
In den Niederlanden ist der innovative Pflegedienst Buurtzorg erfolgreich, der die Angehörigen in die Pflege einbindet. Bei neuen Patienten steht den Mitarbeitern ein Zeitbudget zur Verfügung, um der Familie Ängste zu nehmen und Handgriffe zu zeigen, mit denen sie sich an der Pflege beteiligen können. Im Dorf Oberried bei Freiburg ist seit 2020 die Vision einer „sorgenden Gemeinschaft“ Wirklichkeit geworden. „Uns ist eine Wanderungsbewegung aufgefallen“, erzählt Lucia Eitenbichler: „Die Über-75-Jährigen sind aus Oberried weggezogen.“ Um die Senioren in der Dorfgemeinschaft zu halten, entstand in der Ortsmitte der Ursulinenhof mit einer Tagespflege, Sozialwohnungen und einer selbstverwalteten Wohngemeinschaft. Da man keinen passenden Träger gefunden hatte, übernahm ein Bürgerverein selbst den Betrieb der Tagespflege. Zum ehrenamtlichen Engagement gehören auch so kreative Aktionen wie ein Sommernachtskino.
Das Catering in der Tagespflege übernehmen die Wirte des Ortes zum Selbstkostenpreis. „Wenn einer mitmacht, kann die Konkurrenz gar nicht anders“, sagt Eitenbichler schmunzelnd. Freiwillige engagieren sich als Fahrer für die Senioren, liefern Essen aus und übernehmen Hausmeister-Dienste. Dafür erhalten sie eine Aufwandsentschädigung. Das Engagement ist so groß, dass der Ursulinenhof derzeit keine Fahrer mehr nehmen kann. „In Oberried sind die Voraussetzungen günstig“, analysiert Lucia Eitenbichler, die neben ihrer Arbeit im Ursulinenhof auch Ehrenamtskoordinatorin im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald ist. Eine funktionierende Dorfgemeinschaft trifft hier im Speckgürtel von Freiburg auf aufgeschlossene neue Nachbarn. Zudem war hilfreich, dass gut vernetzte Personen wie sie und der ehemalige Dorfbürgermeister Vertrauen für das Projekt geschaffen haben. „Die Landkreise müssen die Voraussetzungen schaffen und das Know-How zur Verfügung stellen, damit das woanders auch funktioniert“, fordert Eitenbichler.
Pflegekräfte haben ein 25-mal höheres Risiko, an Depressionen zu erkranken, als andere Menschen. Rund 860.000 Fachkräfte sind aus dem Beruf bereits ausgestiegen. Das Projekt „Living Lab Wohnen und Pflege“ in Osnabrück erforscht, an welchen Schrauben man drehen muss, um die Arbeit attraktiver zu machen. Mehrere ambulante Pflegedienste haben mitgemacht und neue Konzepte erprobt. Hohe Zufriedenheitswerte erreichte die Organisation in autonomen Teams, wie sie in Industrieunternehmen bereits früh im 20. Jahrhundert eingeführt wurde. So arbeiten die Pflegekräfte direkt mit Ärzten und Angehörigen zusammen, ohne dass die Leitungsebene zwischengeschaltet ist. Als „Kümmerer“ übernehmen sie Verantwortung für bestimmte Aufgaben im Team, zum Beispiel für den Fuhrpark oder die Team-Gesundheit. „Weil wir den Personalschlüssel verbessert haben, steht ihnen dafür die Zeit zur Verfügung“, berichtet Geschäftsbereichsleiter Martin Schnellhammer. Mehr Geld für die zusätzliche Verantwortung haben sie nicht gefordert.

Die Studie „Ich pflege wieder, wenn…“ hat Aussteiger befragt, unter welchen Bedingungen sie in den Pflegeberuf zurückkehren würden. „Es gibt eine extrem hohe Bereitschaft“, sagt Greta-Marleen Storath von der Arbeitnehmerkammer Bremen. Allein mit den Rückkehrern ließen sich 360.000 Vollzeit-Stellen in der Kranken- und Altenpflege besetzen, rechnet sie vor. In Bremen ist ein Leitfaden für Pflege-Träger erschienen, wie ein strukturiertes „Onboarding“ ablaufen kann. Davon profitieren Wieder- und Quereinsteiger, ausländische Fachkräfte und Elternzeit-Rückkehrer gleichermaßen.
Die Befragten der Studie wünschen sich mehr Kollegialität und eine bessere Führungskultur, ausreichend Zeit für ihre Aufgaben und verlässliche Dienstpläne. „Eigentlich müsste eine Station komplett geschlossen werden, um als Team einen Neustart zu machen“, meint Storath. Ein Hoffnungsschimmer: Unter der Bedingung, dass sie nicht mehr Patienten zu versorgen hätten, sondern mehr Zeit für die gleichen Tätigkeiten bekommen, wären viele Teilzeitkräfte bereit, ihre Stellen aufzustocken.
