Das Ereignis liegt 90 Jahre zurück, und seit vielen Jahrzehnten übt es eine besondere Faszination auf Historiker und geschichtlich Interessierte aus: Wer hat den Reichstag am 27. Februar 1933 angezündet? War es der holländische Kommunist Marinus van der Lubbe als Einzeltäter? Oder steckten die Nazis hinter der Aktion, ohne sich offen zu bekennen?

Im zweiten Fall wären die Kriminalisten und Beamten, die in den Wochen und Monaten nach dem Reichstagsbrand mit den Ermittlungen beauftragt waren, vermutlich korrupt oder ideologisch verbrämt gewesen, auf jeden Fall keine klassischen Beamten mit der Orientierung an Recht und Gesetz. Das würde viel Negatives über das preußische Staatsverständnis zu jener Zeit aussagen. Denn die „Machtergreifung“ der Nazis lag damals ja erst wenige Wochen zurück, und Hitler baute auf den vorhandenen Verwaltungsstrukturen auf.
Sonderbar ist dieser Fall auch wegen eines Randaspektes, das vielleicht gar nicht so nebensächlich ist: Über all die Jahrzehnte hat es immer wieder einen Kreis von Personen gegeben, die mit der Aufarbeitung des Reichstagsbrandes mehr oder weniger intensiv befasst waren – und die von Hannover aus agierten, der niedersächsischen Landeshauptstadt. Sie haben teilweise untereinander Kontakt gepflegt, und ihr Wirken hat bei einigen, die später historisch geforscht haben, einen Verdacht geweckt: Gab es eine Verschwörung aus Hannover, gar einen groß angelegten Vertuschungsversuch – der bis zum ersten Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf reicht? Um eines gleich vorweg zu nehmen: Eine angebliche „Enthüllung“ aus dem Sommer 2019, veröffentlicht in einer hannoverschen Zeitung, entpuppte sich als höchst fragwürdig – und auch hier spielt Hannover eine große Rolle. Im Archiv des Amtsgerichts Hannover lagert eine eidesstattliche Erklärung des früheren, 1962 gestorbenen SA-Mannes Martin Lennings. Dieser gab zu Protokoll, er habe zu einem SA-Trupp gehört, der van der Lubbe zum brennenden Reichstag gebracht habe – damit dieser dort als frisch ertappter Täter habe präsentiert werden können. Doch diese vermeintliche „Sensation“ ist höchst zweifelhaft, da der Autor als unzuverlässig galt und nicht nur in dieser Sache widersprüchliche Aussagen tätigte. Immerhin schlug dieser Fall vor wenigen Jahren medial hohe Wellen, wieder von Hannover ausgehend.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschlug es mehrere Beteiligte der polizeilichen Ermittlungen zum Reichstagsbrand nach Hannover: Walter Zirpins zählte dazu, der zuständige Beamte in der Brandnacht, der van der Lubbe vernommen hatte. Er wurde nach 1945 derjenige, der das Landeskriminalamt in Niedersachsen aufbauen sollte. Ernst Torgler kam nach Hannover, wurde bei der Gewerkschaft ÖTV tätig. Er war 1933 Chef der KPD-Reichstagsfraktion und zunächst von den Nazis der Mittäterschaft am Reichstagsbrand beschuldigt, verhaftet und angeklagt. Das Reichsgericht aber sprach ihn frei. Rudolf Diels lebte nach 1945 in der Umgebung von Hannover, er war zum Zeitpunkt des Reichstagsbrandes der Chef der politischen Polizei – damit der oberste Polizist des, wie man heute sagen würde, „Staatsschutzes“. Während Diels in der Bundesrepublik keine staatliche Anstellung fand, wurde Zirpins als Kriminalist gebraucht, und einer seiner Mitarbeiter im niedersächsischen Innenministerium war Fritz Tobias. Ende der fünfziger Jahre, nachdem Zirpins‘ Mitarbeit bei den Reichstagsbrand-Ermittlungen öffentlich geworden war, forschte Tobias nebenamtlich intensiv in Sachen Reichstagsbrand, nutzte dafür womöglich auch Zugänge zum Verfassungsschutz.
Er schrieb eine Artikelserie für den „Spiegel“ und ein Buch, am Ende wurde die „Tobias-These“ bekannt: Van der Lubbe sei ein Einzeltäter gewesen, es gebe keine Hinweise auf die Mittäterschaft der Nazis (oder einer anderen Gruppe wie der Kommunisten). Bis zu seinem Tod 2011 wurde Tobias für diese Haltung immer wieder angegriffen, ja angefeindet – vor allem von einem Kreis von Publizisten, die alle Dekaden erneut und mit immer wieder neuen Protagonisten vehement behaupteten, Tobias habe nur Spuren verwischen und Fakten verdrehen wollen. Er habe von der NS-Täterschaft ablenken wollen in der Absicht, die damals ermittelnden Beamten nicht als Mitwisser und NS-Kollaborateure enttarnen zu lassen. Tobias, so ein anderer Vorwurf, habe Forscher mit Verfassungsschutz-Akten unter Druck gesetzt, damit seine Sicht auf den Reichstagsbrand prominent publiziert werden konnte. Dabei bedeutet die Tobias-These in der Sache folgendes: Mit den Ermittlungen zum Reichstagsbrand befasst waren im Frühjahr 1933 größtenteils Beamte (Diels einschließlich), die schon in der Weimarer Republik gedient hatten und keineswegs glühende Verfechter einer Abschaffung der Demokratie waren – auch wenn manche sich später in diese Richtung entwickelten. Sie haben, so legte Tobias nah, nicht ideologisch verblendet agiert.

Die Gegner dieser Tobias-These freilich haben Belege nie liefern können, und der letzte Versuch 2019, die Veröffentlichung der eidesstattlichen Erklärung von Lennings, endete wie ein Schuss im Ofen. Trotzdem bleibt die „Hannover-Connection“ in dieser Sache höchst spannend. Da war Diels, der frühere Gestapo-Chef, der in der jungen Bundesrepublik immer wieder zündelte mit Andeutungen und Anwürfen, auch zum Reichstagsbrand. Das war für ihn ein Weg, auf sich selbst aufmerksam und sich wichtig zu machen. Der frühere KPD-Fraktionschef Torgler, der von den Nazis als angeblicher Mittäter verhaftet worden war, musste zumindest von den damaligen Abläufen in der Brandnacht einiges erfahren haben. Er hatte später, in den fünfziger und sechziger Jahren in Hannover, auch engen Kontakt zu Tobias. Er fand eine Stelle als Gewerkschaftssekretär in Hannover – und lebte zurückgezogen. Dann war da Zirpins, der hohe Kriminalist in Niedersachsen, der zeitweise Vorgesetzter von Tobias war. Zirpins hatte noch ein anderes Geheimnis mit sich herumgetragen: Er war im Zweiten Weltkrieg hoher SS-Mann und im Ghetto Lodz an der Verfolgung von Juden beteiligt. Nun gibt es für Zirpins und Torgler eine Gemeinsamkeit, wie die beiden LKA-Mitarbeiter Sven Kohrs und Karola Hagemann vor zwei Jahren in einem Buch über Zirpins dargestellt haben: Zirpins war Anfang der vierziger Jahre Leiter der Polizeidienststelle in Lodz, hatte mit der „Haupttreuhandstelle Ost“ (HTO) zu tun, die das Vermögen von Juden und Polen beschlagnahmt und an NS-Leute weitergeleitet haben soll. Auch Torgler arbeitete von 1941 an für diese Haupttreuhandstelle. In genau dieser Haupttreuhandstelle war auch Hinrich Wilhelm Kopf damals tätig, der spätere erste Ministerpräsident Niedersachsens.
Im Buch der beiden LKA-Mitarbeiter wird nun die Frage aufgeworfen, ob der NS-belastete Zirpins in Hannover beim Aufbau der Kriminalpolizei deshalb lange Zeit unbehelligt wirken konnte, weil er Belastendes über Kopfs Rolle bei der HTO wusste. Gab es eine Erpressung, und, wenn ja, war dabei auch Tobias im Spiel? Und wird auch ein Kreis zum Reichstagsbrand geschlossen, wenn man Torgler in diese Betrachtung einbezieht? Das Wirken von Tobias, eines kundigen Beamten im niedersächsischen Innenministerium mit reichlich Zugängen zu vertraulichen Informationen, weckt in diesem Zusammenhang ebenfalls Phantasien. Tobias war Sozialdemokrat, und als der Sozialdemokrat Kopf 1955 sein Ministerpräsidentenamt abgeben musste (um es 1959 bis zu seinem Tod 1961 wieder zu bekommen), konzentrierte sich Tobias auf die Forschungen zum Reichstagsbrand.

So sehr sich ganze Gruppen an wirklichen oder selbsternannten Forschern auch bemüht haben, den Ruf von Tobias und die Alleintäter-These zu widerlegen und die angebliche Verantwortung der Nazis für den Brand mit Indizien zu untermauern– gelungen ist das bis heute nicht. Tatsache ist, dass die Nazis den Reichstagsbrand zum Anlass nahmen, die politischen Grundrechte außer Kraft zu setzen und die politischen Gegner zu verfolgen. Sie bedienten sich einer Sonderverordnung, die der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg (auch jemand mit starkem Hannover-Bezug) unterzeichnete. Tatsache ist aber auch, dass 1933 trotz dieses Schrittes, der die Aufhebung von rechtsstaatlichen Grundsätzen bedeutete, noch viele in der Weimarer Republik geprägten Beamten tätig waren – sehr viele offenbar in der besten Absicht, ihre Aufgabe ordentlich zu versehen. Die von einigen Gegnern der Tobias-These verbreitete Sichtweise, mit der Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 sei auch die gesamte Beamtenschaft und Polizei zu einer korrupten und verbrecherischen Organisation geworden, zumindest die mit den Reichstagsbrandermittlungen befassten Dienststellen, ist schon sehr, sehr alt – und bis heute immer noch nicht belegt. Auch 90 Jahre danach weckt der Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 noch immer sehr viele Phantasien.