11. Dez. 2022 · 
Umwelt

Warum Windkraftwerke in der Nordsee ein Problem für das Wattenmeer werden könnten

Steht man an der niedersächsischen Küste, auf einer der Inseln, und schaut gen Norden, sieht man im Idealfall nichts. Nur die Weite der See und vielleicht ein paar Tanker in der Ferne. Dabei stehen jenseits des Schutzgebietes schon heute zahlreiche Offshore-Windkraftanlagen. Und es sollen noch mehr werden. In seiner neusten Fassung sieht das Windenergie-auf-See-Gesetz einen Ausbau der installierten Leistung von Offshore-Windenergie-Anlagen in drei Schritten vor: bis zum Jahr 2030 auf mindestens 30 Gigawatt, bis 2035 auf mindestens 40 Gigawatt und bis 2045 sollen dann mindestens 70 Gigawatt installiert sein. Die Windräder in der Nordsee sollen die Energiewende in Deutschland möglich machen. Das praktische an den Anlagen draußen vor der Küste: Man sieht sie eigentlich kaum, sie stören die Anlieger nicht und die Proteste, die jeder Windradbau an Land auslöst, bleiben in der Regel aus.

Die Offshore-Windfarm von RWE bei Helgoland, Foto: Vera Bücker/RWE AG,

Doch ganz so unproblematisch ist es mit dem Ausbau der Windkraft auf See natürlich auch wieder nicht. Um die Dimensionen der geplanten Erweiterungen zu verstehen, hilft ein Vergleich: Zur Hälfte des aktuellen Jahres waren in Deutschland 1501 Offshore-Windenergieanlagen mit einer Leistung von 7,8 Gigawatt in Betrieb. In weniger als einem Vierteljahrhundert soll die Leistung nun also verzehnfacht werden. Das stellt zunächst einen großen Eingriff in den Lebensraum rund um die Anlagen selbst dar. Schließlich stehen die Windräder und die Konverter-Anlagen auf dem Meeresgrund auf Stelzen, sind mit Steinen und Matten gesichert. Der Unterwasserschall wird von zahlreichen Meeresbewohnern wahrgenommen. Zudem können die Anlagen giftige Metallverbindungen abgeben. Die Naturschutzorganisation BUND plädierte deshalb bereits 2020 dafür, dass ein Ausbau auf 15 Gigawatt Leistung in der Nordsee vollkommen ausreichend sein müsste, um die Energiewende zu schaffen.

Blaue Fünfeck-Schilder markieren die Grenze: Seeseits der Deiche beginnt der Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. | Foto: André Kramer/NLPV

Die Zeiten haben sich seitdem aber gravierend geändert. Angesichts der Energie- und Rohstoffkrise in Folge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verlangt die Energiewende mehr Tempo und es kommt der Windenergie auf See dabei eine noch größere Bedeutung zu. Die vier Nordsee-Anrainer Niederlande, Dänemark, Belgien und Deutschland haben sich deshalb im Mai in der Esbjerg-Erklärung dazu bekannt, die Nordsee zum „grünen Kraftwerk der Windenergie“ zu machen. Demnach soll bis zum Jahr 2030 die Leistung der Offshore-Windenergie in der Nordsee zusammengerechnet vervierfacht werden und so mindestens 65 Gigawatt erreichen. Bis zum Jahr 2050 soll die Leistung weiter bis auf 150 Gigawatt ansteigen. Neben den gesteigerten Ausbauzielen soll zudem das novellierte Energiesicherungsgesetz des Bundes auch den technischen Voraussetzungen dafür den Weg bereiten, damit die Leistung entsprechend erhöht werden kann.

Damit die Energie von den Windrädern auch an Land gelangt, müssen nämlich neue Trassen erschlossen und neue Kabel verlegt werden. Bislang gibt es dafür die Trassen Ems und Norderney I und II. Geplant sind zudem Korridore über Baltrum und Langeoog, wofür es aber noch keine konkreten Planungen gibt. Für den Übertragungsnetzbetreiber Tennet bedeuten die neuen Offshore-Ziele enorme Herausforderungen. Um diese zu bewältigen, hat das Unternehmen in diesem Jahr zwei Großprojekte europaweit ausgeschrieben und lädt damit Industriepartner zu einer ganz neuen Kooperation ein, die auf acht Jahre angelegt ist und ein Gesamtauftragsvolumen von 30 Milliarden Euro umfassen soll. Es betrifft nach Angaben des Tennet-COO Tim Meyerjürgens sowohl die „Plattformen auf See und die landseitigen Stationen, einschließlich der Konverter zur wechselseitigen Umwandlung zwischen Drehstrom und Gleichstrom, basierend auf der innovativen 2-Gigawatt-Hochspannungsgleichstromtechnologie für voraussichtlich 15 bis 20 Offshore-Netzanschlusssysteme.“

Hier werden Seekabel für den Offshore-Windpark „Alpha Ventus“ bei Norderney verlegt. | Foto: Tennet

Beim BUND sorgen diese gigantischen Planungen derweil für Besorgnis, denn mehr und größere Anlagen verlangen auch nach umfangreicheren, moderneren Kabeln. Und zwischen den Anlagen und der Küste liegt nun einmal das Wattenmeer, ein besonders geschützter Naturraum, wie es ihn kaum ein zweites Mal gibt. Das Wattenmeer ist Nationalpark, Naturerbe, Ramsar-, Vogelschutz- und FFH-Gebiet sowie ein Biosphärenreservat. Ein Quadratmeter Wattboden kann nach Auskunft von Biologen bis zu 100.000 Schlickkrebse, ebenso viele Wattschnecken, 20.000 junge Miesmuscheln oder 50 dicke Wattwürmer enthalten. Auf einen Quadratmeter kommen 300 Gramm Biomasse, auf einen Hektar etwa drei Tonnen. Die Naturschützer fürchten nun um den Schutz dieses besonderen Ökosystems, wenn der Nutzungsdruck weiter steigt.



Beim Verlegen der Kabel ergeben sich bei näherer Betrachtung verschiedene Stresssituationen für das sensible Ökosystem. Die naturschonende Variante war es, das Watt mithilfe eines Vibrationsschwertes zu zerteilen und das Kabel, das von einer Spule herabgelassen wird, ins nasse Erdreich einzubringen. Beim BUND fürchtet man, dass die moderneren Kabel aufgrund ihrer anderen Beschaffenheit mit einem großen Pflug in das Watt eingepflügt oder sogar in offener Bauweise verlegt werden müssten. Hinzu kämen parallele Baumaßnahmen in mehreren Korridoren. Bislang hat der Gesetzgeber durch besondere Vorgaben versucht, die Belastungen so gering wie möglich zu halten. Das Energiesicherungsgesetz soll diese Einschränkungen nun aber aufheben, weil man festgestellt hat, dass die selbstgesteckten Ausbauziele kaum zu erreichen sein könnten. So gab es bislang etwa ein Zeitfenster für bauliche Maßnahmen, das vom 15. Juli bis zum 30. September reichte, um Störungen sensibler Arten zu reduzieren. Dieses soll künftig ausgeweitet werden. Auch bei der Wahl der Verlegetechnik sollen alle technisch geeigneten Verfahren angewendet werden dürfen – die Naturverträglichkeit spielt eine untergeordnete bis gar keine Rolle mehr. Und das sogenannte 2K-Kriterium soll aufgeweicht werden. Dieses Kriterium gibt vor, dass die Temperaturerhöhung durch ein Seekabel nicht mehr als zwei Kelvin betragen darf, um Risiken für die Artenvielfalt im Watt zu reduzieren.

Der Windpark bei der Helwin2-Leitung von Tennet in der Nordsee. | Foto: Tennet

Beim BUND möchte man trotz der Skepsis allerdings nicht als Verhinderer der Energiewende angesehen werden. So fordert der BUND, dass auch künftig die notwendige Rücksicht auf die Natur im Welterbegebiet genommen wird. Gleichzeitig schlägt deren Landesvorsitzende Susanne Gerstner vor, als Wiedergutmachung für den unvermeidbar anwachsenden Stress in Teilen des Wattenmeers an anderer Stelle das Naturerbe gezielt von anderen Belastungsfaktoren zu entlasten. So müssen beispielsweise Ruhezonen, die frei sind von jeglicher Nutzung, auch konsequent umgesetzt und ausgedehnt werden. Auch die Schifffahrt oder der Flugverkehr, die bislang nicht angemessen geregelt werden, sollten Einschränkungen erfahren. Beim massiv ansteigenden Flugverkehr zur Versorgung der Windparks gelte dies insbesondere für den Überflug besonders sensibler Gebiete zum Schutz von Vögeln oder Meeressäugern. Zudem fordert Gerstner Renaturierungsmaßnahmen, die über die bislang vorgeschriebenen Kompensationen hinausgehen. All das wäre wohl nötig, damit auch in Zukunft, wenn man an Niedersachsens Küsten steht, auf einer der Inseln, und nach Norden schaut, noch auf ein außergewöhnliches Ökosystem blickt.

Dieser Artikel erschien am 12.12.2022 in Ausgabe #221.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail