Warum so viele Finanzbeamte verzweifeln
Mit der Bildschirmarbeit an sich, sagt Arndt Tegtmeier, steht keiner seiner Kollegen auf Kriegsfuß. Wie sollte man auch? Computer gehören für die 67 Finanzämter in Niedersachsen seit vielen Jahren zur Realität, jeder der rund 10.000 Beschäftigten hat damit zu tun. Was vielen seiner Kollegen aber schon große Problem bereite, sei die dauernde Veränderung: „Sie spüren den Druck von zwei Seiten: Auf der einen Seite das Steuerrecht, das sich beinahe monatlich ändert und immer auf dem aktuellsten Stand angewendet werden muss, und auf der anderen Seite die störanfällige Computertechnik, die auch ständig angepasst und reformiert wird.“ Damit seien viele Leute einfach überfordert – und nicht nur die älteren.
Tegtmeier arbeitet als Betriebsprüfer in einem Finanzamt – und er sitzt im Landesvorstand der Deutschen Steuergewerkschaft (DSTG), der Berufsvertretung der Finanzamtsbediensteten. Als kürzlich die Führungsspitze des Verbandes neu gewählt wurde, klagte der neue Vorsitzende Thorsten Balster über die „skandalöse IT-Unterstützung“ in den Finanzämtern. Sie halte die Beschäftigten davon ab, ihre eigentliche Arbeit zu machen. „Skandalös“ – das ist ein hartes Wort für den eher für nüchterne Sprache bekannten Berufsstand. Zu den erfahrenen Mitarbeitern gehört Andreas Pohlmann, auch Mitglied im DSTG-Vorstand. Er sagt: „Die Zeitabstände, in denen die Computertechnik erneuert wird, werden immer kürzer. Und wir büßen immer mehr Mitarbeiter ein. Die einen verlassen den Beruf und gehen in die Privatwirtschaft. Die anderen verlieren wir, obwohl sie noch da sind – sie kommen nicht zurecht und ziehen sich innerlich zurück.“
Wo genau liegen die Probleme? Der Finanzbeamte Markus Plachta erwähnt das ehrgeizige Projekt namens „Konsens“ (Koordinierte neue Softwareentwicklung der Steuerverwaltung). 2011 waren die Bundesländer nach langen Vorbereitungen endlich so weit, ihre Computerprogramme aufeinander abzustimmen. Das liegt auch nah, schließlich ist das Steuerrecht bundesweit einheitlich, also braucht es nicht für jedes Land ein anderes Bearbeitungssystem für Steuererklärungen. Aber weil für Konsens ein politischer Konsens nötig wurde, gab es Kompromisse – jedes größere Bundesland bekam das Recht, an der Entwicklung mitzuwirken. In der Praxis führt das zu einem Nebeneinander unterschiedlicher Modelle. Einige Länder nutzen teilweise weiter ihre alten Verfahren, weil die effektiver sind als das, was bei Konsens gerade der aktuellste Stand ist. In anderen Punkten sind die neuen Vorgaben umfangreicher – und weniger praktikabel. Plachta berichtet über die sogenannten „Beteiligtendaten“ etwa bei Bauherrenmodellen. Das neue System verlange, sämtliche Angaben dazu einzutragen, im alten System war das entbehrlich. Ein anderes Beispiel ist der Versuch, mit der neuen Technik die Übertragung einer Steuerakte von einem in ein anderes Bundesland zu vereinfachen. „2011 sagte man uns, da genüge nur ein Knopfdruck“, meint DSTG-Chef Balster. Aber erst jetzt, fünf Jahre später, habe man erreicht, dass die Aktenweitergabe nicht mehr monatelang dauert.
So entsteht trotz der Einheitlichkeit des Softwareprogramms ein Wildwuchs an Bearbeitungswegen – und die Folge ist nicht selten die erhöhte Störanfälligkeit der Computer. Die Oberfinanzdirektion hat gemeinsam unter anderem mit dem Finanzamt Delmenhorst an einer Fehleranalyse gearbeitet – und landesweit geprüft, wie häufig die Technik versagt. Das Ergebnis ist erschreckend: Zwischen Oktober 2015 und März 2016 wurden in den Rechenzentren der niedersächsischen Finanzämter täglich 150 Störungsmeldungen verbucht – vom kleinen Anwendungsproblem bei der Eingabe bis zum Totalausfall in einer Behörde. Weil alle Computer miteinander vernetzt sind, führt eine Fehlmeldung bei einem Mitarbeiter nicht selten dazu, dass gleich die ganze Abteilung nicht mehr weiterarbeiten kann. „Das ist nicht hinnehmbar. Von uns Finanzbeamten wird erwartet, bis zu 30 Steuererklärungen täglich zu bearbeiten – aber viele können das nicht schaffen, weil die Technik immer wieder streikt“, sagt Balster, „dabei sind doch alle guten Willens.“
Inzwischen hat die Oberfinanzdirektion reagiert, auf „Konsens“ setzt sie ein Projekt mit einem nicht minder einprägsamen Namen: „MuTiG“. Der steht für: „Mensch und Technik im Gleichklang“. Die Mitarbeiter der Finanzämter sollen vertrauter gemacht werden mit den technischen Neuerungen, teilweise über Schulungen oder über einen besseren Informationsaustausch – oder auch auf dem Weg, dass in jedem Amt die jüngeren den älteren hilfreich zur Seite stehen. Die Steuergewerkschaft sieht das als guten Ansatzpunkt, hält es aber nicht für ausreichend. „Rund 120 Mitarbeiter im Rechenzentrum sind zu wenig, wir brauchen vor allem mehr Programmierer“, sagt Balster. Wenn man mit den geringen Gehältern im öffentlichen Dienst keine Fachleute finde, müsse man eben mit höheren Löhnen locken können. Außerdem fordert die DSTG eine „Entschleunigung“: „Wir sollten bestehende Programme erst verbessern, bevor wir neue einführen.“ Mehr Mitarbeiter bräuchten die Finanzämter auch, denn nach dem derzeitigen Personalschlüssel, der die Zahl der erwarteten Steuererklärungen zugrunde legt, fehlten in Niedersachsen 517 Vollzeiteinheiten – das sind, einschließlich der Teilzeitkräfte, rund 1000 Stellen.
Das Finanzministerium sieht die Probleme schon, hält sie aber nicht für gravierend. Das Projekt „Konsens“ sei außerordentlich komplex und habe 500 Einzelprogramme, es stehe an etwa 12.000 Terminals zur Verfügung. Wenn es da 150 Fehlermeldungen täglich gebe, sei das „vertretbar“. Den Ruf der DSTG nach mehr Programmierern weist das Ministerium zurück: Da die Software gemeinsam von allen Bundesländern entwickelt werde, müsse diese Arbeit nicht allein in Niedersachsen geleistet werden. Gleichwohl seien die Haushaltsmittel für notwendige Programmierarbeiten bereits deutlich erhöht worden. (kw)