
Man wüsste so gern, was in vielen Dörfern und Städten passiert ist, bevor die Nazis 1933 an die Macht kamen – und was sich dann in der Zeit danach abgespielt hat, auch in der Zeit nach dem Ende der NS-Herrschaft. Häufig genug wird auch heute noch, 90 Jahre nach Hitlers „Machtergreifung“, ein Mantel des Schweigens darüber ausgebreitet. In jeder Familie sitzen Menschen, die mit einer offenen Debatte verletzt werden könnten. Jetzt aber liegt eine bemerkenswerte Studie über die Gemeinde Wedemark (Region Hannover) vor, die als Projekt vor neun Jahren begonnen wurde. Die Abschlussarbeit ist in einem 415 Seiten dicken Buch zusammengefasst, das am Montag von Bürgermeister Helge Zychlinski (SPD) vorgestellt wurde. Dieses Werk geht tatsächlich ins Detail, es ist durchaus geeignet, auch zu verletzen.
Wie kam es dazu? Zychlinski berichtet, dass Bauarbeiter im Ortsteil Elze 2014 zufällig auf alte Grabsteine in kyrillischer Schrift stießen. Der Bürgermeister ließ nachforschen und stellte fest, dass dort Zwangsarbeiter aus der Ukraine begraben waren, die in der NS-Zeit dort verpflichtet worden waren. Das war der Auslöser für weitere Aktivitäten. Zunächst drängt sich nun die Frage auf, wie so ein Vorhaben überhaupt gelingen konnte. Wie bringt man eine Dorfgesellschaft, in der noch viele Beteiligte aus der NS-Zeit leben, überhaupt dazu, sich in dieser Weise zu öffnen? Mehrere Bedingungen müssen wohl stimmen. Erstens ein Bürgermeister, der das vorantreibt und auch von der Stadtgemeinschaft getragen wird. Das ist beim Sozialdemokraten Zychlinski zweifellos der Fall. Zweitens ein guter Kontakt zu Schulen und Forschungsstellen, die dem Projekt aufgeschlossen gegenüberstehen und mitarbeiten wollen. Auch das ist in der Wedemark passiert. Carl-Hans Hauptmeyer als emeritierter Professor für Regionalgeschichte stand bereit und sicherte eine fachlich saubere Einordnung. Drittens einige Zeitzeugen, die sich nicht zu schade sind, über ihre Erlebnisse zu berichten – und zwar nicht verkniffen und verklausuliert, sondern ehrlich und offen. Das war auch gegeben. Die vierte Bedingung ist vielleicht die wichtigste: Man muss einen geschichtskundigen, tatendurstigen und gut vernetzten Menschen finden, der sich die Sache zu eigen macht und vorantreibt, der immer wieder neue Anstöße gibt. Das war der Wedemarker Bürger, Jurist und bisherige Landesbeauftragte für das Problem des Antisemitismus, Franz Rainer Enste. Ihn fragte Zychlinski, und das in der sicheren Einschätzung: Bei solch einem Angebot kann der vielbeschäftigte Enste wohl kaum nein sagen. Er sagte ja – und wurde damit der Kopf des Projektes.

Schon der Titel des Buches klingt irgendwie ungewöhnlich: „Die Geschichte der Wedemark von 1930 bis 1950“. 1930 ist eben noch vor der Machtergreifung der Nazis in Deutschland, 1950 ist fünf Jahre nach dem Ende von Hitlers Herrschaft, damit auch ein Jahr nach Gründung der Bundesrepublik. Der Anspruch war also, nicht nur die NS-Zeit selbst, sondern auch die unmittelbare Zeit davor und danach in den Blick zu nehmen. Schulklassen wurden eingebunden, in den Archiven wurde geforscht – und es gab so manchen Versuch, bei den Bürgern im Ort noch alte Dokumente aufzutreiben. Dass zuweilen einige sich versperrten, dürfte nicht verwundern. Überraschend ist wohl eher, wie viel in diesen Jahren zusammengetragen wurde. Regelmäßig trafen sich viele Akteure zu lokalen Symposien, um über den Stand der Arbeit zu berichten, offene Fragen zu besprechen und zu schauen, wo es noch hakt und wo man noch wertvolle Hinweise finden kann.
Dabei sind die wesentlichen Erkenntnisse wohl in der folgenden Form zusammenzufassen:
In der Wedemark kam die NSDAP gut an
Laut Hauptmeyer ist es das ländliche, kleinstädtische Milieu, das anfällig wurde für die Nazis – weniger der entwurzelte Proletarier, mehr der verwurzelte Agrarier. 1930 wählten noch 32,3 Prozent die SPD, 16,3 Prozent die Landvolkpartei und nur 16,5 Prozent die NSDAP. 1932 dann kam die NSDAP auf 63,9 Prozent, die SPD auf 22 Prozent. Im Dorf Dudenrodenbostel erreichten die Nazis 79,7 Prozent, in Resse 72 Prozent. Der Aufstieg der NSDAP ist damit gleichzeitig mit dem Abstieg von SPD und Deutsch-Hannoverscher Partei (DHP) verbunden.
Die heile Welt schützt nicht gegen Radikalisierung
Die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre hat die Wedemark kaum erfasst. Es lebten auch nicht viele Juden in der Gemeinde. Anhand von Zeitzeugenberichten und Akten wird auch klar, dass viele NS-Funktionäre im Dorf gar nicht fanatisch waren – und dass es wohl eher unangenehm auffiel, wenn ein Ortsbauernführer über große Pläne zur „Umsiedlung von Kleinbauern in die Ostgebiete“ fabulierte. Enste spricht von Ängsten, die auch in einer solchen scheinbaren Idylle entstehen können – die Ängste vor Abstieg, vor Verlust des Gewohnten oder vor den Fremden.
In eigentlich nebensächlichen Dingen wird Angst verbreitet
Manche Vorfälle in den Jahren der NS-Herrschaft zeigen, wie Druck ausgeübt wird: 1933 wird ein Sozialdemokrat von den SA-Leuten bedrängt, sie schreiben „Volksverräter“ an seine Tür. SPD-Mitglieder treten teilweise zur NSDAP über. Später soll angeblich massiv versucht worden sein, junge Männer zum Beitritt zur SS zu bewegen – und zwei Frauen, die ein Verhältnis mit einem französischen Kriegsgefangenen gehabt haben sollen, wurden kahlgeschoren und wieder nach Hause geschickt. Sie hätten sich geschämt und über viele Jahre stigmatisiert gefühlt.

Die großen Themen der Diktatur liegen neben der Haustür
In verschiedenen Zeitzeugenberichten wird erzählt, wie der kasernierte, quasi im Arbeitslager lebende „Reichsarbeitsdienst“ mit dem Bau der durch die Gemeinde führenden Autobahn beschäftigt wurde. Die Landfrauen aus der Wedemark, die in Bückeburg geschult wurden, hörten auch von den Konzentrationslagern. Was genau dort geschieht, wussten viele wohl nicht – aber sie ahnten es vielleicht. In ihren Recherchen stießen die Wedemarker Geschichtsforscher auch auf die Namen von vier Bürgern des Ortes, die von den Nazis als geisteskrank bezeichnet wurden und von denen drei anschließend im Euthanasie-Programm ermordet wurden. Bürgermeister Zychlinski berichtet vom totalitären Charakter der NS-Herrschaft: „In jedes kleine Dorf, in jede kleine Schule hat der Arm der NSDAP hineingeragt. Nirgendwo konnte man dieser Macht ausweichen – und man erfuhr, was dieses System für Absichten verfolgte.“
Das Kriegsende verläuft ungleichmäßig
Zum Ende des Krieges spitzt sich die Lage auch in der eher beschaulichen Gemeinde Wedemark zu: Ab 1943 werden die Ausgebombten aufgenommen (am 9. Oktober 1943 wurde Hannover getroffen), ab 1944 kommt die Welle der Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten hinzu. Bei Kriegsende werden in den meisten Dörfern Bettlaken aus dem Fenster gehängt, viele Menschen ergeben sich. In Negenborn und Resse gibt es noch Gefechte, hier sind einige Hitler-Jungen aktiv, womöglich angeleitet von SS-Befehlshabern. Nicht überall gelingt es, die Hitler-Jungen nach Hause zu schicken. Es heißt, dass gerade viele junge Männer es damals nicht verstanden haben, nun kapitulieren zu müssen. In Bissendorf wird der Bürgermeister von den alliierten Truppen erschossen, auch ein Begleiter, der angeblich von Nachbarn als Nazi denunziert worden war. In Mellendorf lassen die Briten alte Akten und Bücher verbrennen, dabei passiert ein Unfall und mehrere Menschen sterben. Viele Nazis werden verhaftet und in den Wochen danach den Entnazifizierungskommissionen überstellt. Oft kommt es wohl vor, dass sie nach kurzer Zeit mit dem Persilschein „unbelastet“ wieder zurückkehren. Dies alles folgt aus – oft natürlich subjektiven – Berichten von Zeitzeugen. Dass die Selbstmord-Welle, die in den April- und Maitagen 1945 einsetzte, auch in der Wedemark auffällig wurde, ist nicht überliefert.
Nach dem Krieg ist manches wieder wie vorher
Bei den Kommunalwahlen im Oktober 1946 erreicht die SPD 43,2 Prozent, die bäuerlich geprägte Niedersächsische Landespartei 34,9 Prozent, die CDU 14,1 Prozent und die KPD 6 Prozent. Damit sind die Verhältnisse fast wieder so wie 1930, wenn man von den damals noch 16,5 Prozent für die NSDAP absieht.