21. Dez. 2023 · 
Soziales

Warum eine Vier-Tage-Woche gesünder und gerechter für alle Arbeitnehmer wäre

„Das geht doch nicht!“ Das war der erste Impuls in der Rundblick-Redaktion, als Ralf Selbach, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Roten Kreuzes in Niedersachsen, es eher beiläufig im Interview erwähnte: Eine DRK-Sozialstation erprobt die Vier-Tage-Woche. Wenn jemand sagt: „Das geht nicht!“, dann werde ich neugierig. Deswegen habe ich das Pflegeteam in Seelze besucht, die gerade beweisen, dass es doch geht. Ein erster Erfolg des Modellversuchs hat sich schon eingestellt: Es gab mehr Bewerbungen als freie Stellen – in der Branche eine Sensation.

Immer mehr Arbeitnehmer wünschen sich eine Vier-Tage-Woche. | Foto: GettyImages/Gaitanides

Das dürfte in Zeiten des Fachkräftemangels das Argument sein, das am Ende entscheidet. Ja, vermutlich ist es für viele Unternehmen nicht im Bereich des Möglichen, ihren Beschäftigten eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich zu bescheren, wie es die GDL und die IG Metall fordern. Erfolgreich werden aber die Arbeitgeber sein, die den Mut und die Kreativität für innovative Arbeitszeitmodelle aufbringen. Ich wünsche mir, dass es 2024 noch viele mehr werden, die die Vier-Tage-Woche wagen.

Lange hat man geglaubt, jedes gesellschaftliche Problem würde sich von selbst erledigen, so lange man die Wirtschaft am Laufen hält. Jetzt, angesichts einer immer weiter schrumpfenden Arbeitsbevölkerung, sehen wir, dass es nicht so ist. Es gibt nicht genügend Profis, an die wir alle Fürsorge-Aufgaben delegieren könnten. In der Altenpflege wird bereits jetzt die meiste Arbeit von Angehörigen geleistet. Den Schulen und Kindertagesstätten, deren Personal mit seiner Kernaufgabe Bildung bereits am Limit ist, kann man nicht noch mehr aufladen: mehr Erziehungsaufgaben übernehmen, mehr Lebenskompetenzen vermitteln. Es ist Zeit, den Wert von Fürsorgearbeit zu erkennen und ihr die Zeit einzuräumen, die sie braucht. Wenn alle weniger arbeiten, haben alle mehr Zeit, sich umeinander zu kümmern. Das gilt nicht nur für Eltern kleiner Kinder und Kinder hochbetagter Eltern, sondern für alle Akteure der Zivilgesellschaft: Nachbarschaften, Vereine, Religionsgemeinschaften. Ein viel zitiertes Sprichwort sagt, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. „Um in Würde alt zu werden, auch“, ergänzte neulich die Leiterin eines Seniorenzentrums.

Quelle: HDI

Noch ein anderes Problem werden wir nicht in den Griff bekommen, wenn wir weiter unseren Selbstwert von unserem Stresslevel abhängig machen und abschätzig auf alle blicken, die eine „Work-Life-Balance“ einfordern. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen, Süchte und Burnout verkürzen unser (Arbeits-)Leben und belasten die Sozialkassen. Ein freier Werktag in der Woche bedeutet auch Zeit, sich um sich selbst zu kümmern: Vorsorge-Termine wahrzunehmen, Sport zu treiben, draußen zu sein und gesund zu kochen. Wenn sich auf diese Weise der Krankenstand reduziert, hilft das auch den Arbeitgebern. Aus gutem Grund hat die AOK Interesse an dem Pilotprojekt in Seelze angemeldet: Die Krankenkassen sehen hier ein Potential, Ausgaben zu senken.

Wie wir dorthin kommen? Wenn es den Berufsverbänden ernst ist mit der Vier-Tage-Woche, sollten sie von der Maximalforderung eines vollen Lohnausgleichs für alle Lohngruppen abrücken. Die Gesundheit und Lebensqualität ihrer Mitglieder sind nicht weniger wert als Geld. Keine faire Lösung ist übrigens, denjenigen, die sich am meisten belastet fühlen, zu antworten: Dann reduziert doch individuell eure Arbeitszeit. Denn nach wie vor ist Teilzeit mit Karriere-Nachteilen verbunden. Besonders bei Männern wird auf diesen Wunsch mit hochgezogenen Augenbrauen reagiert. Führung in Teilzeit ist längst nicht selbstverständlich. Unfaire Regelungen zum Beispiel beim Abbau von Überstunden belasten Teilzeit-Kollegen über Gebühr. Die Vier-Tage-Woche für alle wäre eine Chance, sowohl Erwerbsarbeit als auch Fürsorgearbeit gerechter zu verteilen.



Darf ich mir noch etwas wünschen? Dann hätte ich gerne, dass alle 2024 etwas tun, von dem sie einmal gesagt haben: „Das geht doch nicht!“

Dieser Artikel erschien am 22.12.2023 in Ausgabe #225.
Anne Beelte-Altwig
AutorinAnne Beelte-Altwig

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