Für die meisten Menschen wird es mit zunehmendem Alter immer schwieriger, neue Freundschaften zu schließen. Nicht jedoch für Umweltminister Christian Meyer. Seitdem die Stahlindustrie ihr grünes Gewissen entdeckt hat, hat sich der 47-Jährige mit einer ganzen Branche angefreundet. Besonders aber die Salzgitter AG und ihren Konzernchef Gunnar Groebler scheint Meyer ins Herz geschlossen zu haben. „Das ist das größte Klimaschutzprojekt, das wir in Niedersachsen haben“, lobt der Grünen-Politiker die angestrebte Produktionsumstellung hin zu klimaneutralem Stahl bei seinem Antrittsbesuch in Salzgitter. Den zweitgrößten deutschen Stahlbetrieb (nach Thyssen-Krupp) bezeichnet Meyer als „den großen Modellbetrieb für die Transformation“.

Zehn Prozent der niedersächsischen CO2-Emissionen von knapp 78 Millionen Tonnen können hier in den nächsten Jahren eingespart werden, rechnet der Umweltminister vor. Und er spricht noch eine viel höhere Summe an: Eine Milliarde Euro soll die Salzgitter Flachstahl demnächst an staatlichen Beihilfen für die Dekarbonisierung ihrer Stahlproduktion erhalten. „Ich habe extra letzte Woche mit dem Vizekanzler geredet, dass das auch sicher ist“, ergänzt Meyer. Der Konzern selbst will den Umstieg von gasbetriebenen Hochöfen zu Elektrolichtbogenöfen zu mehr als 50 Prozent selbst finanzieren. „Das ist für die Salzgitter AG die größte Einzelinvestition seit dem Zweiten Weltkrieg“, sagt Groebler. Um die komplette Transformation des Stahlkonzerns zu wuppen, wollen Bund und Land insgesamt 3 Milliarden Euro dazu schießen, wovon 700 Millionen aus dem niedersächsischen Landesetat stammen.

Das sind schon erhebliche Fördermittel für einen Konzern, der bei seiner Bilanzpressekonferenz am kommenden Montag voraussichtlich wieder ein ausgezeichnetes Ergebnis für das Geschäftsjahr 2022 vorstellen wird. Der Gewinn vor Steuern wird wohl jenseits der 1-Milliarde-Euro-Marke liegen und trotz diverser Krisen weiterhin anziehen. Das Land Niedersachsen, das ein Viertel der Salzgitter-Aktien hält und dessen Interessen von Finanzminister Gerald Heere (Grüne) im Aufsichtsrat vertreten werden, profitiert aber unterm Strich von dieser Subventionspolitik. Nach Volkswagen, Continental und Talanx ist die Salzgitter AG das viertwichtigste Unternehmen des Landes. Die Nord/LB bezifferte die Wertschöpfung des Stahlkonzerns zuletzt auf 2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Und der Bedeutung für die Region wird diese Summe vermutlich noch nicht einmal gerecht. „Wenn wir diesen Weg nicht gehen würden, wären hier am Standort perspektivisch 7000 Arbeitsplätze in Gefahr“, warnt Groebler.

Der Umweltminister verweist zudem auf die industriepolitische Relevanz des Stahlkonzerns. „Wir wollen Stahl in Deutschland – und am liebsten in Niedersachsen – herstellen, um damit die gesamte Produktionskette vom Windrad bis zum Elektrolyseur zu sichern“, sagt Meyer. Da darf der Hinweis von Konzernchef Groebler natürlich nicht fehlen, dass die Rohre zur Anbindung der LNG-Terminals Wilhelmshaven von der Salzgitter-Tochter „Mannesmann Großrohr“ geliefert wurden. Und tatsächlich wäre die Bauzeit für den Flüssiggashafen ohne das Extra-Engagement aus Salzgitter, wo man frühzeitig mit dem Stahlschmelzen begann, wahrscheinlich nicht in diesem Rekordtempo möglich gewesen.

Wie aber nimmt man die Staatsmilliarden für den grünen Strom in Salzgitter innerhalb der Branche auf? Der Stahlgigant Thyssen-Krupp darf sich ganz sicher nicht beschweren, denn auch dort wird die Umstellung auf CO2-freien Stahl mit riesigen Summen subventioniert. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) ist mindestens ebenso spendabel wie sein niedersächsischer Kollege Stephan Weil (SPD). Bis zu 700 Millionen Euro aus Landesmitteln will Wüst allein in die Hochofen-Nachfolgetechnologie bei Thyssen-Krupp in Duisburg stecken. Für den Konzern oder vielmehr für den zukünftigen Besitzer der Thyssen-Krupp-Stahlsparte, die zum Verkauf steht, haben Bund und Land mehrere Milliarden Euro an Fördermitteln in Aussicht gestellt.

Grund zur Klage hätte, wenn überhaupt, die niedersächsische Georgsmarienhütte GmbH (GMH), die bei ihrem Umstieg auf die Elektrostahlproduktion in den 1990er-Jahren längst nicht so üppige Förderprogramme genießen durfte wie die Unternehmen heute, die die Entwicklung verschlafen haben. Konzernchef Alexander Becker hat aber gerade ganz andere Probleme: Obwohl seine Unternehmensgruppe bereits schon große Teile der Transformation geschafft hat, fliegen ihm gerade die Kosten um die Ohren. „Wir haben jetzt mit Preiserhöhungen zu kämpfen, die die Stahlindustrie in dieser Dimension noch nicht gesehen hat. Das betrifft in erster Linie Strom und Erdgas, aber auch viele andere Elemente wie Aluminium und Magnesium und ganz simpel den Sprit für Dienstfahrzeuge“, beklagte Becker kürzlich im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Der Vorstandsvorsitzende der GMH-Gruppe sucht deswegen auch sprichwörtlich den Schulterschluss mit der Politik. Beim bundesweiten Aktionstag der Gewerkschaften für einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis marschierte Becker Seite an Seite mit Ministerpräsident Weil. „Wir haben einen Strompreis, der rund fünfmal teurer ist als jener unserer Wettbewerber im Ausland. Wir sind nicht mehr wettbewerbsfähig“, sagte der GMH-Chef bei der Veranstaltung. Becker forderte in diesem Zusammenhang einen Industriestrompreis von 4 Cent, denn jeder Auftrag der erst einmal an einen Mitbewerber gegangen sei, komme nicht wieder zurück.

Im kleineren Maßstab profitiert aber auch Georgsmarienhütte von den Subventionen des Bundes. Aus dem Fördertopf „Dekarbonisierung der Industrie“ erhält der Elektrostahlproduzent knapp 900.000 Euro für eine neue Einzelvergütungsanlage. Insgesamt 10 Millionen Euro soll die neue Anlage kosten, bei der Stahlstäbe künftig nicht mehr per Erdgas, sondern per Strom und im Induktionsverfahren erhitzt werden. Pro Ofen spart das laut GMH etwa 2800 Tonnen CO2 pro Jahr ein und soll in Georgsmarienhütte schon ab der Inbetriebnahme im September 2023 mit Ökostrom laufen. „Der Ersatz von fossilen Energieträgern wie Erdgas ist die größte Herausforderung auf unserem Weg zur Klimaneutralität. Wir setzen dabei vor allem auf die Elektrifizierung auf Basis von Grünstrom und die Wasserstofftechnologie“, kommentiert Standortchef Marc-Oliver Arnold.

Auch in Salzgitter steht bereits ein Elektrolyseur mit sieben Windrädern zur Wasserstoffproduktion bereit, bislang allerdings nur als Pilotprojekt. „Wir können heute schon Eisenerzpellets mit 100 Prozent Wasserstoff reduzieren, das haben wir bereits ausprobiert“, sagt Groebler. Zukünftig werde man Wasserstoff aber auch für alle anderen Anwendungen einsetzen können, die man sich für Stahl nur vorstellen kann. Die riesigen Mengen an grünem Strom und Wasserstoff, die der Konzern dazu benötigt, sollen überwiegend an und vor der Küste erzeugt werden. In der Beschaffungsstrategie spielen laut Groebler sogenannte Power-Purchase-Agreements (PPA), also Direktverträge zwischen der Salzgitter AG und (Offshore)-Windkraftparkbetreibern eine zentrale Rolle. „Nur so kriegen wir auch attraktive Energiepreise hin“, sagt er und fügt hinzu: „Die ersten drei PPAs haben wir schon beschlossen.“ Der CEO freut sich außerdem über die günstige Lage des Standorts, die bei der Transformation in die Karten spiele. „Salzgitter hat eine perfekte Lage, weil wir da liegen, wo sich Ost und West auch pipelinemäßig treffen“, sagt Groebler.

Sorgen bereiten dem Salzgitter-Chef dagegen die bürokratischen Hürden. 60 Genehmigungen benötigt das Transformationsprogramm „Salcos“ („Salzgitter Low CO2 Steelmaking“) allein für die erste Ausbaustufe. Insbesondere für die 380-kV-Hochspannungsleitung von der Küste nach Salzgitter sowie für die Pipeline-Anbindung zum Wasserstoff-Großprojekt von Uniper in Wilhelmshaven sind zahlreiche Einzelgenehmigungen nötig. Damit bis Ende 2025 insgesamt 30 Prozent des Salzgitter-Stahls klimafreundlich hergestellt werden können, dürfen laut Groebler deswegen auch die Behörden nicht trödeln.

Von der neuen Deutschlandgeschwindigkeit merkt er zwar noch nichts, doch er ist vorsichtig optimistisch. „Das Verständnis für das Gesamtprojekt und der Wille gemeinsam zu arbeiten, sind da“, bescheinigt er der Landesregierung. Zum Umweltminister sagt Groebler: „Das ist eine Riesenherausforderung für ihr Haus wie für uns“. Um zu zeigen, wie ernst es dem „Turbominister“ ist, hat Meyer auch gleich ein paar Ministeriumsmitarbeiter für den fachlichen Austausch mitgebracht. „Je schneller wir sind, umso schneller erreichen wir die Klimaziele“, sagt der Grünen-Politiker. Gleichzeitig beteuert Meyer, dass es keine Abstriche bei den Umweltauflagen geben werde. Ob dieser Spagat gelingt, wird sich nun zeigen.
