17. Apr. 2023 · Soziales

Warum die Sozialwahlen in Deutschland sowohl wichtig als auch umstritten sind

Das Prinzip klingt absolut vorbildlich: Wer für eine Kranken- oder die Rentenversicherung seine Beiträge zahlt, kann gleichzeitig Teil eines großen demokratischen Prozesses sein. Denn die Krankenkassen und die Rentenversicherungen von Bund und Ländern haben eigene Parlamente, die über wichtige Fragen beraten und entscheiden, den Haushalt festlegen, die hauptamtliche Führung wählen und diese auch kontrollieren.

Foto: DRV Bund

In diesen Vertretungen sitzen je zur Hälfte Abgeordnete der Arbeitgeber und der Versicherten – und diese beiden Seiten müssen dann stets und ständig einen Kompromiss finden. Alle sechs Jahre läuft die Amtszeit dieser Vertreter aus, und im April ist es wieder so weit. Bald dürften große Werbetafeln aufgestellt werden und Anzeigen geschaltet werden, der „Wahlkampf“ steht bereits in den Startlöchern.

Das ist die eine Seite – oder auch: die Theorie. In der Praxis werden die Sozialwahlen seit vielen Jahren von den immer gleichen, wiederkehrenden Problemen begleitet, es gibt fragwürdige Tendenzen und Entwicklungen, aber auch Hoffnungsschimmer. Hier eine Aufstellung:

Es gibt oft gar keine Wahlen

Die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) verzichten auf Wahlen, die regionalen Rentenversicherungen ebenso. Bei vielen Betriebskrankenkassen gibt es auch keine. Seit Jahren bei den Sozialwahlen dabei ist die Rentenversicherung Bund, außerdem viele Ersatzkassen wie die DAK, die Barmer, die Techniker-Krankenkasse, die HKK und die Kaufmännische Krankenkasse. Das sind unterm Strich etwa 38 Prozent der gesetzlich Kranken- und 40 Prozent aller Rentenversicherten. Bei den übrigen Sozialversicherungsträgern herrscht etwas, das mit dem Begriff „Friedenswahl“ recht verniedlichend beschrieben wird: Arbeitgebervertreter und Arbeitnehmervertreter verständigen sich jeweils in ihren eigenen Gruppen auf die Namen derer, die in der Vertretung mitwirken sollen. Es sind dann genauso viele, wie freie Plätze da sind – die Wahl kann dann also entfallen.

Foto: IG Metall Braunschweig

Im Vorfeld gibt es dort oft ein Geben und Nehmen, eine Bestätigung langjähriger Mitglieder oder auch eine Bestellung neuer Leute, die von ihren Vorgängern ausgeguckt worden sind. Manche nennen das „Mauschelei“, da bei diesem Prinzip häufig Vertreter kleiner Gruppen, die bei direkten Wahlen vermutlich wenig Chancen haben, durch kluges Verhandeln mit den DGB-Gewerkschaften gut berücksichtigt werden. Das Resultat muss nicht qualitätsmindernd sein, denn oft werden auch gute Leute in diesem Verfahren ausgewählt. Im Unterschied zu einer echten Wahl geschieht die Personalrekrutierung für die Vertretung bei diesen „Friedenswahlen“ allerdings hinter verschlossenen Türen über Absprachen in kleinen Runden. Die Auswahl- oder Verhandlungsgründe werden oft nicht öffentlich. Da es dann auch zu keiner Wahl kommt, müssen sich die Kandidaten auch nicht den Versicherten vorstellen, nicht für sich und ihre Positionen werben. Das Verfahren ist intransparent, die Selbstverwaltung agiert in einem geschlossenen System, in das kaum jemand hineinblicken kann. Schon seit vielen Jahren wird dieser Zustand beklagt, geändert hat sich nichts daran. 

Die Selbstverwaltung hat zu wenig Raum

Die Sozialgesetzgebung ist sehr weitreichend in der Bundesrepublik, den Krankenkassen und der Rentenversicherung sind viele Details vorgegeben. Vor Jahren noch konnten die Kassen ihren Beitragssatz selbst festlegen – inzwischen regelt das ein Gesetz, lediglich der Zusatzbeitrag ist noch variabel. Wie stark die Ausgaben für die Rehabilitation steigen dürfen, bemisst sich inzwischen auch an einem gesetzlich verfügten Deckel. Wenn die Sozialversicherungen ihre Haushalte festlegen, ist damit ein Großteil der Ausgabeposten schon von vornherein festgelegt, der Spielraum bleibt gering. Peter Weiß, ehemaliger Bundestagsabgeordneter und jetzt „Bundesbeauftragter für die Sozialwahl“, spricht trotzdem vom „hohen Wert der Selbstverwaltung“.

„Das ist doch beruhigend, wenn dort Leute tätig sind, die einen Bezug zu den einfachen Leuten haben.“

Dort säßen Vertreter der Versicherten, die beispielsweise zuständig würden, sobald ein Betroffener Widerspruch gegen einen Bescheid zur Rente oder Krankenversicherung einlegt. „Das ist doch beruhigend, wenn dort Leute tätig sind, die einen Bezug zu den einfachen Leuten haben.“ Der Sozialwissenschaftler Bernard Braun, der die Sozialwahlen seit Jahren kritisch begleitet, nennt einige Dinge, die man viel stärker in die Hand der Selbstverwaltungsgremien legen könne: der Abbau der Überversorgung in bestimmten Bereichen, der Einsatz von neuen Technologien (wie etwa elektronischen Gesundheitskarten) oder Präventionskonzepte. Stattdessen geschehe das Gegenteil, wie jüngste Entscheidungen des Gesundheitsministers zu der Versichertenkarte zeigten.

Die Kandidaten sind sich alle einig

Das Wesen des Wahlkampfes ist nun mal, dass es wenigstens ein Thema gibt, bei dem es zwischen den verschiedenen Listen krasse Meinungsunterschiede gibt. Schon seit Jahren aber wird beobachtet, wie wenig profiliert die unterschiedlichen Gruppen sind. Korrespondierend zu der Tatsache, dass die Selbstverwaltung wenig zu sagen hat, sind auch die zur Wahl stehenden Bewerber kaum unterscheidbar. Das fängt schon bei den Listenbezeichnungen an. Zwar gibt es klassische Listen für Verdi, IG Metall, Beamtenbund oder für den Christlichen Gewerkschaftsbund. Doch etwa bei der DRV Bund nennt sich die stärkste Fraktion „Die Unabhängigen“, und bei näherer Betrachtung sind auch dort Gewerkschafter dabei, gemischt mit anderen Bewerbern. Die Unterscheidbarkeit geht verloren, vielmehr drängt sich der Eindruck auf, ein korporativer Stil werde geprägt – eine Aufstellung von Listen nach dem Muster, schon bei der Vorauswahl auf eine möglichst breite Vertretung verschiedener Teil-Interessen zu achten. Im Endeffekt ist dann der Wahlakt keine Entscheidung mehr für die eine Richtung oder gegen die andere, sondern eine Auswahl aus unterschiedlichen, jeweils in sich ausgewogenen Kandidatengruppen.



Der Gesundheitsexperte Robert Paquet warnt sogar davor, die Sozialwahlen über stärkere Polarisierungen zu „politisieren“. Das könne zu „aufgesetzten Wahlkämpfen“ führen und zu Scheingefechten über Themen, die über die echten Kompetenzen der Selbstverwaltungsgremien hinauszugehen drohen. Am Ende schwäche das die Versichertenseite, da diese sich aufspalte und einer meist geschlossenen Arbeitgeberseite gegenüberstehe. Andere meinen, dann drohten auch politische Listen wie die von der AfD – und das störe das System. Dem ist zu entgegnen, dass eine Stärkung der Wahl ein erster Schritt dafür sein könnte, dass sich die Selbstverwaltungsgremien mehr Rechte erkämpfen. Ein Beispiel aus der Politik kann das belegen: Seit der ersten Direktwahl zum Europaparlament 1979 haben sich die Abgeordneten dank ihrer stärkeren Legitimation und Bekanntheit Zug um Zug mehr Einfluss gesichert.

Reformvorschläge finden einfach kein Gehör

Der Sozialwahl-Beauftragte Peter Weiß erinnert an einen seiner Vorgänger, den inzwischen verstorbenen Namensvetter Gerald Weiß. Der hatte 2011 vorgeschlagen, man solle doch die „Friedenswahl“ untersagen und der Selbstverwaltung mehr Rechte geben, beispielsweise die Festlegung der Beitragshöhe. 2017 hatte die damalige Bundesbeauftragte Rita Pawelski ähnliches vorgeschlagen. Passiert ist nichts, die Mahner und Kritiker konnten sich nicht durchsetzen. Deshalb, weil in vielen Kassen das eingeübte Miteinander der Akteure in den Vertreterversammlungen nicht gestört werden wollte? Oder weil die Politik sich nicht traut, dieses System in Frage zu stellen? Liegt das vielleicht auch an den Gewerkschaften und ihren artverwandten Organisationen, die ihre Macht bedroht sehen?



Je weniger Versicherte noch in einer Gewerkschaft Mitglied sind, desto größer ist natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass auch „freie Listen“ bei Sozialwahlen mehr Zuspruch erfahren. Bisher zeichnet sich das in der Praxis noch nicht ab, was aber auch daran liegt, dass Gewerkschaftsvertreter in den Gremien etabliert, erfahren und bewährt sind. Peter Weiß erfreut sich derzeit schon an den kleinen Dingen, mit denen diese Sozialwahl einen „Testcharakter“ für andere Wahlen bekommen könnte: Es ist festgeschrieben, dass der Frauenanteil 40 Prozent betragen muss. „Entsprechend sehen die Listen heute ganz anders aus als früher“, sagt Weiß. Außerdem sollen die Wahlberechtigten ihre Stimme erstmals auch online abgeben können, wenn sie sich über ihren Versichertenausweis zertifizieren lassen.

„Hoffentlich führt das dazu, dass wir bei dieser Sozialwahl eine Beteiligung von vielleicht 38 Prozent haben."

Ein wenig Bewegung gibt es also doch, immerhin. „Hoffentlich führt das dazu, dass wir bei dieser Sozialwahl eine Beteiligung von vielleicht 38 Prozent haben – im Vergleich zu rund 30 Prozent bei der Wahl 2017. Das wäre doch schon was“, sagt der Sozialwissenschaftler Braun. Das Logo der Sozialwahl 2023 sieht übrigens auch anders aus als das der Sozialwahl 2017: Wieder nimmt man einen roten Briefumschlag mit einem Smiley. Nur: Die Ecken des Umschlags sind jetzt abgerundet. Immerhin! Und in der Broschüre der Deutschen Rentenversicherung Bund haben drei ausgewählte Prominente die Chance erhalten, für die Teilnahme an der Sozialwahl zu werben: Kanzler Olaf Scholz (SPD), Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD).

Dieser Artikel erschien am 18.4.2023 in Ausgabe #070.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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