Warum die Hamelner Landratswahl die Parteien in Hannover nervös macht
Der Saal des Gemeindehauses der Kirche in Aerzen ist bis auf den letzten Platz gefüllt, zwei Fernsehteams sind gekommen, es müssen weitere Stühle reingeschleppt werden. Die Leute wollen die vier Männer erleben, die sich anschicken, am 8. März die Landratswahl in Hameln-Pyrmont zu gewinnen. Aber rasch wird an diesem Abend klar, wie schwer eine Vorhersage über den Wahlausgang sein wird: Sowohl zu Beginn als auch noch nach zwei Stunden ist der Beifall recht gleichmäßig verteilt – für Dirk Adomat (SPD), Stefan Wittkop (CDU), Torsten Schulte (Grüne) oder auch Christopher Emden (AfD): Jeder von ihnen bekommt freundlichen Applaus. Vielleicht ist der Widerspruch, den Emden erfährt, ein wenig ausgeprägter als bei den anderen. Aber ein Außenseiter ist auch er nicht.
Das macht nun diese Landratswahl so spannend: Es gibt keinen Favoriten. Oder anders ausgedrückt: Jeder, der am kommenden Sonntag vorn liegen wird (und sich vermutlich zwei Wochen später mit dem Zweitplatzierten in einer Stichwahl messen muss), kann als Träger eines Überraschungserfolges bezeichnet werden. Hameln-Pyrmont gilt eigentlich als „roter“ Landkreis. Seit vielen Jahren haben hier die Sozialdemokraten immer die Landratswahlen gewonnen, im Kreistag gibt es eine Kooperation zwischen SPD, Grünen und Linken. Spätestens seit dem Streit über das Atomkraftwerk Grohnde in den siebziger Jahren ist die politische Szene von heftigen Konflikten und tiefsitzender gegenseitiger Abneigung geprägt.
Die beiden bisherigen sozialdemokratischen Landräte, Tjark Bartels (SPD) und sein 2013 ermordeter Vorgänger Rüdiger Butte, galten als starke, dominante Personen in der Kommunalpolitik. Butte wurde aus dem Amt und Leben gerissen, als ihn ein aufgebrachter Bürger vor sieben Jahren in seinem Amtszimmer erschoss. Bartels, der Nachfolger, wirkte hemdsärmelig und tatkräftig, trieb die Pläne für die Erinnerungsstätte auf dem Bückeberg voran, legte sich mit den Planern von Hochspannungstrassen an und übernahm im Streit um die Erdverkabelung die Rolle eines Leitwolfs unter den Landräten.
Als es 2019 seinem Jugendamt zu schweren Pannen kam, weil Hinweise auf eine pädophile Veranlagung eines Pflegevaters missachtet wurden, geriet auch Bartels massiv unter Druck, über ihn ergoss sich ein Shitstorm mit verletzenden und völlig ungerechtfertigten Angriffen, er erlitt ein Burnout und schied später dienstunfähig aus dem Amt. Dieser Fall, verbunden mit dem Ortsnamen „Lügde“, wurde bundesweit zum Synonym für das Behördenversagen von Jugendämtern. In Hameln-Pyrmont ist Lügde seither das Synonym für wiederaufflammenden Hickhack in der Kreispolitik.
SPD-Kandidat Admonat gilt als Gegenteil des vorherigen SPD-Landrats Bartels
Nun ist der Landtagsabgeordnete Dirk Adomat (59), der SPD-Kandidat, im Wesen das pure Gegenteil von Bartels, er tritt eher zurückhaltend und vermittelnd auf. Der Hobby-Imker hat selbst, bis er in den Landtag kam, 30 Jahre lang in der Kreisverwaltung gearbeitet. Sein CDU-Kontrahent Stefan Wittkop (45), Jurist aus dem Nachbarort Springe, erscheint als freundlicher, verwaltungskundiger Fachmann. Auch er liebt den Konsens. Torsten Schulte (50), Postbank-Betriebsrat und seit etlichen Jahren Kommunalpolitiker, spielt seine Karte als langjähriger Kenner der politischen Szene im Landkreis aus und verweist auf seine Herkunft auf einem Bauernhof in der Region.
Christopher Emden (42), ehemaliger Richter und AfD-Landtagsabgeordneter aus Oyten (Kreis Verden), spricht von nötigen Reformen, mehr Bürgernähe und Innovationen. Er will als Macher erscheinen. Alle vier zeigen in der Diskussion in Aerzen, die von Pastor Christof Vetter geschickt geleitet wird, jeder für sich auch Schwächen. Adomat klingt streckenweise so, als bete er sein Programm herunter, da fehlt die Inspiration. Schulte wirkt anfangs unsicher, schaut beinahe schüchtern zu seinen Mitbewerbern und verfängt sich in Sprechblasen. Wittkop windet sich an einer Stelle um eine klare Antwort herum – und Emden redet ohne Ende auf die Zuhörer ein, scheint gar nicht zu spüren, dass die Versammlung das nervt.
Flüchtlingspolitik nimmt großen Raum in der Debatte ein
Aber jeder von ihnen zeigt eben auch Lichtblicke. Wenn Adomat sagt, die seit vielen Jahren miserable Lehrerversorgung gerade in Aerzen könne nur mit gemeinsamen Anstrengungen gelöst werden, dann klingt er wie ein glaubwürdiger Kümmerer und bekommt dafür Applaus. Emden gelingt es, als erster die wichtigen Worte Digitalisierung und ÖPNV-Verbesserung zu erwähnen. Wittkop antwortet auf eine Frage zur Landwirtschaft detailliert mit vorbereiteten Punkten – und zeigt, wie klar strukturiert er Probleme angeht. Und Schulte taut nach anderthalb Stunden richtig auf, als Pastor Vetter von den Kandidaten wissen will, wie sie zur Aufnahme von Flüchtlingen im Landkreis stehen.
Das Thema nimmt breiten Raum ein, aus Sicht manch ungeduldiger Zuhörer einen zu breiten, und im Publikum prallen die Meinungen aufeinander. „Irgendwann ist das Boot voll“, wendet ein Mann ein, der lange bei der JVA Hameln gearbeitet hat und die Zuwanderung kritisch sieht. Als Schulte an der Reihe ist, widerspricht er strikt: „Das Boot ist eben nicht voll.“ Gerade in Aerzen, sagt er, brauche man künftig Menschen, „die uns später pflegen und unsere Infrastruktur erhalten“ – und warum sollten dies nicht die Menschen sein, die als Flüchtlinge hier herkommen? Die Erfahrungen mit denen, die schon hier sind, seien doch überwiegend gut. Das ist der Moment, in dem der Grünen-Kandidat das Bemühen der anderen, mit möglichst niemandem eine Konfrontation zu wagen, klar durchbricht und sich vorwagt. Er zeigt damit, dass er sich auch in Konflikten behaupten kann.
Keiner der Kandidaten hat klar die Nase vorn
Nach drei Stunden endet die Landratsdiskussion in Aerzen. Auch in dieser Runde aber schält sich niemand heraus, der klar die Nase vorn hätte. Dazu sind auch die Haltungen der Zuhörer viel zu unterschiedlich.
Derweil richten sich die Blicke aus Hannover zunehmend neugierig Richtung Hameln. Sollte der SPD-Mann nächste Woche vorn liegen, so wäre das ein Zeichen, dass Lügde, das Jugendamt und die Folgen keinen großen Einfluss auf die Wahl hatten – und dass die SPD trotz ihrer bundesweiten Schwäche noch gewinnen kann. Sollte der CDU-Mann in Führung sein, so wäre das Aufatmen bei den Parteifreunden groß, weil die momentane Orientierungslosigkeit der Bundespartei sich nicht in Stimmverlusten niederschlägt.
Wenn der Grünen-Bewerber Schulte die meisten Stimmen bekäme, wäre seine Partei auf einmal viel etablierter, als es vielen Mitgliedern lieb ist – nach dem OB in Hannover wäre ein weiterer wichtiger Posten eines Verwaltungschefs in grüner Hand. Und wenn der AfD-Bewerber in die Stichwahl käme, hätte der traditionell in Niedersachsen eher schwache Landesverband einen riesigen Achtungserfolg erreicht. Ausgeschlossen ist auch das nicht. (kw)