Der Herbst 2019 bietet Anlass für Rückblicke: Was war in diesem Land los vor zehn Jahren, vor 20 Jahren, vor 30, 40, 50, 60 und 70 Jahren? In einer kleinen Serie wollen wir zurückschauen – und dabei versuchen, ein paar Grundlinien der politischen Entwicklung zu entdecken. Heute: Niedersachsen im Jahr 1979.

Der Ort war Hannover, die Landeshauptstadt, und es geschah am zweiten Adventssonntag im Jahr 1979. Damals, vor 40 Jahren, wurde der Grünen-Landesverband Niedersachsen gegründet. Also jene Gruppierung, die gerade in diesem Jahr so erfolgreich ist, dass sie sogar die Sozial- und Christdemokraten in den Schatten zu stellen vermag. Hier regiert seit wenigen Tagen ein Grünen-Oberbürgermeister. Am gleichen Ort, in Hannover, kam ein Jahr und sechs Tage nach der Grünen-Gründung Annalena Baerbock zur Welt, die heutige Grünen-Bundesvorsitzende. Ihr Partner im Vorsitz, Robert Habeck, war zu jener Zeit gerade mal zehn Jahre alt. Das zeigt, wie sehr auch diese Partei, die immer noch jung, beschwingt und unkonventionell auftreten will, inzwischen in die Jahre gekommen ist. Ihre aktuellen Repräsentanten sind noch nicht so alt, dass sie die Anfänge der politischen Arbeit der Grünen noch bewusst mitbekommen konnten.

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Tatsächlich sind die Grünen in Niedersachsen um einige Wochen jünger als der Grünen-Bundesverband, der einen guten Monat später in Karlsruhe gegründet wurde. Wenn man nach den Wurzeln fragt, dann ist unzweifelhaft der Protest gegen die Atompolitik zu nennen. Schon als Anfang der 70er Jahre der Bauantrag für das neue Kernkraftwerk in Grohnde (Kreis Hameln-Pyrmont) eingereicht wurde, formierte sich Protest dagegen.

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Die Diskussion eskaliert immer mehr, auch an anderen Orten der Republik wie im baden-württembergischen Whyl. Als am 19. März 1977 mehr als 15.000 Demonstranten den Bauplatz in Grohnde besetzen und den Metallgitterzaun einreißen wollten, führte das zu teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den rund 4000 eingesetzten Polizisten, es gab mehrere Verletzte, fortan war von einer „Schlacht um Grohnde“ die Rede.

Systemkritik wurde deutlich

1977 war auch das Jahr, indem die sozialliberale Bundesregierung in Bonn unter Kanzler Helmut Schmidt und die christlich-liberale Landesregierung unter Ministerpräsident Ernst Albrecht in Hannover den Salzstock in Gorleben als Atom-Endlager und die Gegend drumherum als Entsorgungszentrum auswählten. Auch dagegen formierte sich Protest, und ähnlich wie in Grohnde war dieser doppelt ausgerichtet: Zum einen wenden sie sich gegen die klaren politischen Entscheidungen für die Atomenergie, die aus Sicht der Gegner kurzsichtig und ignorant waren, weil die Risiken dieser Technologie ausgeklammert würden. Zum anderen wird auch Systemkritik deutlich: Die politischen Entscheidungsträger seien unfähig, auf die Bedenken der Protestler einzugehen und sie einzubeziehen, es würden intransparente Entscheidungen rücksichtslos durchgesetzt.

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Es waren zunächst ländlich geprägte, eher konservative Leitfiguren, die mit den Anfängen der Grünen in Niedersachsen in Verbindung stehen. Sicher, die außerparlamentarische Opposition von 1968 und 1969 stand Pate. Aber der Hauptakteur der Grünen-Gründung, der Jurist und Oberregierungsrat Carl Beddermann aus Schwarmstedt (Kreis Nienburg), war von der Vorstellung beseelt, den Anti-Grohnde-Protest aus lokalen Gruppierungen auf eine höhere Ebene zu heben. Er gründete zunächst die „Umweltschutzpartei Niedersachsen“ (USP), die dann später in die „Grüne Liste Umweltschutz“ aufging. Die GLU trat 1977 zur vorgezogenen Kreistagswahl in Hildesheim an und erntete mit 1,2 Prozent einen Achtungserfolg.

Enttäuschung bei der Landtagswahl 1978

Bei der Landtagswahl 1978 folgte dann die Enttäuschung: Mit 3,9 Prozent war die GLU an der Fünfprozenthürde gescheitert. Beddermann, dem der zunehmende Einfluss linksextremer Akteure bei den vielen inzwischen entstandenen grünen Bewegungen in Deutschland nicht geheuer war, zog sich noch 1978 zurück. Ein Jahr später, im Juni 1979, gab es zur Europawahl ein Bündnis, an den auch die GLU teilnahm. Erstmals tauchte damals der spätere Parteiname auf den Stimmzetteln auf, wenn auch noch bürokratisch verpackt unter dem Titel „Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen“.


Lesen Sie in der Serie auch:

Vor 50 Jahren: Die SPD in Niedersachsen erlebt einen radikalen Generationswechsel

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Vor 70 Jahren: Warum Hannover keine Fusion mit Großbritannien einging


Noch ein weiterer Niedersachse war prägend für diese Bewegung, auch wenn er in der eigenen Geschichtsschreibung der niedersächsischen Grünen nicht auftaucht: Der CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Gruhl aus Barsinghausen (Region Hannover) hatte 1975 ein Buch mit dem Titel „Ein Planet wird geplündert“ geschrieben, ein früher Bestseller der Öko-Bewegung in Deutschland. Gruhl wandte sich innerhalb der CDU früh gegen die Atompolitik, blieb dort aber ein Einzelgänger und Außenseiter. Er trat als Bundestagsabgeordneter 1978 aus der CDU aus und gründete die „Grüne Aktion Zukunft“ (GAZ), wurde erster Bundesvorsitzender des BUND.

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Gruhl war ein Kritiker der Ideologie des unbegrenzten Wachstums, warb für Bescheidenheit und sah die Überbevölkerung der Erde mit ihren kritischen Folgen für das Weltklima als großes Problem an. Seine GAZ ging in die Grünen über – aber ähnlich wie Beddermann zog sich aus Gruhl aus dieser neuen Partei zurück, da ihm der linke Flügel mit den eigenen Themen (Änderung des parlamentarischen Systems, Betonung der Emanzipation von Frauen und von Minderheiten, Kampf gegen Hierarchien und Eliten) nicht mehr behagte. Gruhl rief die Ökologische Demokratische Partei (ÖDP) als rechten Ableger der Grünen ins Leben, entfremdete sich aber auch dort über die Jahre von der Basis.

In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ wurde jüngst eindrucksvoll beschrieben, dass die Grünen ihren Erfolg bis heute nicht geschafft hätten ohne das starke Gewicht ihrer anthroposophischen Strömung, denn diese habe stets für die gemeinsame Kraftanstrengung aller geworben, auch für die Kooperation verschiedener Gruppen. Das gelte umso mehr, als frühere Akteure der kommunistischen K-Gruppen, die auf Abgrenzung und Klassenkampf aus waren, eben auch immer stärker wurden bei den Grünen – in Niedersachsen etwa symbolisiert durch Jürgen Trittin. Womöglich ist das der Grund, warum der Abgang von eher bürgerlichen Umweltschützern wie Gruhl und Beddermann nicht etwa die Spaltung und das Ende der Grünen bedeutete, sondern dieser jungen Partei nicht ernsthaft etwas anhaben konnte.

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Zwei Lager gibt es indes bei den Grünen in Niedersachsen bis heute. Die eher bürgerlichen, auf Kompromisse ausgerichteten „Realos“ hier, die fundamentalistischen, auf Systemveränderung zielenden „Linken“ dort. Immerhin: Als sich die Chance auf eine Regierungsbeteiligung auf Landesebene bot, 1990 und 2013, packten die Grünen entschlossen zu. Jeweils hielten diese Bündnisse nur eine Legislaturperiode. (kw)