12. Juni 2017 · 
Kommentar

Volksentscheid gegen die Vernunft

Darum geht es: Die sachlich notwendige, aber von vielen Emotionen überlagerte Fusion von drei Kliniken in Ostfriesland ist gescheitert. Per Bürgerentscheid wurde am Sonntag festgelegt, dass die drei alten, defizitären Krankenhäuser bestehen bleiben. Ein Kommentar von Klaus Wallbaum. Die direkte Demokratie, Volksabstimmungen und Bürgerentscheide, wird immer noch gern ins Feld geführt gegen eine angebliche Bürgerferne und Verkrustung der Politik. Früher waren es vor allem die Grünen und linke Kräfte, die diese Botschaft propagierten. Heute läuft ihnen in dieser Frage die rechtspopulistische AfD den Rang ab. Wie zweifelhaft die Ergebnisse der direkten Demokratie sein können, zeigt das aktuelle Beispiel aus Ostfriesland. Natürlich war der Neubau einer Zentralklinik anstelle der alten Krankenhäuser in Emden, Norden und Aurich sinnvoll. Es bleibt nach wie vor die einzige vernünftige Lösung in der Region – aber es gelang den Gegnern vor allem in Emden, die Sorgen und Ängste der Leute gegen dieses sachgerechte Projekt zu wecken. Die Zentralklinik ist damit für die nächsten zwei Jahre erst einmal gescheitert. Wie das geschehen konnte, verdient nun eine nähere Betrachtung. Erste Hypothese: War das Volk zu dumm, die tatsächliche Tragweite des Problems zu erkennen? In diesem Fall muss das verneint werden. Alte und defizitäre Krankenhäuser haben ein Qualitätsproblem, weil ihnen auf Dauer das Geld fehlt für moderne Geräte, gute Ärzte und eine gute Betreuung. Wer trotzdem in ein altes und finanzschwaches Krankenhaus geht, riskiert deshalb viel, auch seine Gesundheit. Da in Ostfriesland zwei Bürgerinitiativen bestanden, eine für und eine gegen das Zentralklinikum, hat es eine intensive Debatte über das Thema gegeben. Wer wollte, konnte die Bedenken und Einwände gegen den Erhalt der alten Häuser hören, monatelang wurde beraten, mal mehr und mal weniger sachlich. Dass die Gegner der Klinikfusion die Bürger mit einer aufgepeitschten Kampagne überrannt hätten, lässt sich also nicht behaupten. Zweite Hypothese: Ist es in der Diskussion gelungen, das Thema selbst – also die optimale Krankenhausversorgung – in den Mittelpunkt zu rücken? Das muss klar verneint werden. Der Versuch der Befürworter des Klinikneubaus, die Leistungsbilanzen der Kliniken, die Defizite und die Investitionsbedarfe gegenüberstellen, wurde von den Gegnern konterkariert. Sie argumentierten mit dem drohenden Ausverkauf der Heimat. Die Sorge der alten Dame, dass ihr Mann sie im Krankenhaus nicht mehr besuchen könne, wenn die Klinik nicht mehr um die Ecke, sondern einige Kilometer weiter entfernt ist, wurde auf einmal wichtiger als die Frage, ob die alte Dame in einer baufälligen Klinik besser aufgehoben wäre als in einer neuen und modernen. In Aurich wurde diskutiert, dass man nach dem Bahnhof doch nicht auch noch das Krankenhaus verlieren dürfe – dann werde die einst so stolze Kreisstadt doch immer stärker abgewertet. Vielleicht hätten die Befürworter der Klinikfusion stärker auf diese unterschwelligen Stimmungen eingehen müssen, um deren Bedeutung für die Entscheidung entkräften zu können. Es wurde offenbar versäumt. Dritte Hypothese: Haben die Kommunalpolitiker, die den Sinn der Reform klar erkannt hatten und zielstrebig für die Zentralklinik eingetreten waren, alles Notwendige getan, auch die Bürger davon zu überzeugen? Hier sind große Zweifel angebracht. Es heißt, die großen Verluste der SPD in der Stadt Emden, ihrer Hochburg, bei der Kommunalwahl im vergangenen September hätten auch mit der Debatte rund um die Krankenhäuser zu tun gehabt. Tatsächlich ist die Diskussion mehr als unglücklich gelaufen. Bevor die neue Kommunalverfassung galt, gab es gar keine Möglichkeit für einen Bürgerentscheid – denn jeder Antrag dazu hätte einen aufwendigen Kostendeckungsvorschlag zur Voraussetzung gehabt. Also wurden das Plebiszit zunächst verworfen, und dann, nach der Änderung der Gemeindeordnung, doch erlaubt. Zwischen Kommunalpolitikern und Initiatoren des Entscheids wuchs das Misstrauen. Die Kritiker der Zentralklinik fühlten sich missverstanden und ausgegrenzt, so wurde die Abstimmung auch zu einen Misstrauensvotum gegenüber den verantwortlichen Kommunalpolitikern. Das war unfair, weil sich die handelnden Akteure die größte Mühe gegeben haben, ein gutes Konzept für die Zentralklinik zu entwerfen. Vierte Hypothese: Sind die Vorgaben der Kommunalverfassung so gestrickt, dass sie optimal wirken und ein faires Ergebnis zutage fördern? Auch hier ein klares Nein. Die Fragestellung beim Bürgerentscheid war eine Frechheit, weil sie der Komplexität des Themas nicht gerecht wurde. Dass 2000 mehr Bürger für die Zentralklinik waren als dagegen, wirkt sich am Ende auch nicht aus, weil zwischen der Stadt Emden und dem Kreis Aurich differenziert ausgezählt werden musste. Kurzum: Das Gesetz, auf dessen Basis abgestimmt wurde, ist schlecht. Die Leidtragenden sind die Bürger in Ostfriesland, die nun noch länger mit einer Notlösung ihrer Krankenhäuser leben müssen. Mail an den Autor dieses Kommentars
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #109.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

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