Die Personalknappheit verändert die Arbeitswelt: 500 Unternehmer, Personalchefs und Führungskräfte haben sich am Mittwoch in Hannover getroffen, um über die Auswirkungen des Fachkräftemangels und über Rezepte gegen die Krise zu sprechen. Die wichtigste Erkenntnis des Arbeitgeber-Forums 2023: „Der Arbeitsmarkt hat sich komplett gedreht. Aus dem Nachfragemarkt ist ein Angebotsmarkt geworden“, sagte Volker Schmidt, Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeberverbände Hannover.

„Auch Fachkräfte haben Lieferzeit, auf Knopfdruck geht da gar nichts“, sagt Arbeitgeber-Chef Volker Schmidt. | Foto: Axel Herzig

Allein in der niedersächsischen Industrie würden querbeet durch alle Branchen rund 35.000 MINT-Fachkräfte fehlen. 30.000 offene Ausbildungsstellen seien in Niedersachsen unbesetzt geblieben und die Zahl der MINT-Studienanfänger sei bundesweit von 200.000 auf 170.000 zurückgegangen. „Wo sollen all die notwendigen Fachkräfte für die Energiewende, für die Wende in der Verkehrspolitik, auch für die Wärmewende spätestens nach 2028 herkommen?“, fragte Schmidt und warnte vor übertriebenen politischen Zielmarken: „Wir müssen bei aller Begeisterung für Ziele ein Stück weit schon darauf achten, dass das, was wir uns wünschen und wollen, auch mit dem kompatibel ist, was der Arbeitsmarkt hergibt. Auch Fachkräfte haben Lieferzeiten, auf Knopfdruck geht da gar nichts.“

Volles Haus im Schloss Herrenhausen: Steffen Krach hält eine Impulsrede vor Unternehmern aus der Region. | Foto: Axel Herzig

Dass die Fachkräftelücke vom Zerspanungstechniker über den Elektroingenieur bis hin zum Informatiker größer wurde, sei aber nicht nur eine Folge des demographischen Wandels, sagte Schmidt. „Die Tendenz ist auch deswegen weiter steigend, weil Corona oder besser gesagt, die Maßnahmen, die gegen Corona ergriffen wurden, vor allem auf dem Rücken der jungen Generation ausgetragen wurden.“

Bei 183 Tagen Schulschließung sei es kein Wunder, dass es in Niedersachsen über 21.000 Schulabgänger gebe, die fundamentale fachliche Fähigkeiten vermissen ließen und auch in der Persönlichkeitsentwicklung große Versäumnisse hätten. Zudem hatten 7000 Heranwachsende in Niedersachsen die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen – so viele wie noch nie.

Krach räumt Fehler bei Corona-Bekämpfung ein

„Es war nicht alles richtig, was wir beschlossen haben. Gerade bei der Bekämpfung der Pandemie in der Schule haben wir ein bisschen überzogen“, bestätigte Regionspräsident Steffen Krach (SPD) diese Kritik. Die etwa 12.000 Schuleingangsuntersuchungen, die die Region Hannover pro Jahr durchführt, würden inzwischen klare Defizite bei Sportlichkeit und Sprachfähigkeit aufzeigen. Zudem könnten immer weniger Kinder schwimmen oder Rad fahren.

„Wir haben viele Jahre lang in Deutschland die berufsbildenden Schulen komplett vernachlässigt“, moniert Regionspräsident Steffen Krach. | Foto: Axel Herzig

„Wir müssen uns jetzt richtig anstrengen, damit wir die zwei bis drei Jahre, die für die Kinder fast verloren gegangen sind, jetzt wieder aufholen“, sagte der SPD-Politiker und fügte hinzu: „Wir haben viele Jahre lang in Deutschland die berufsbildenden Schulen komplett vernachlässigt, da müssen wir in den kommenden Jahren einen deutlichen Schwerpunkt setzen. Bei der Ausbildung von Fachkräften spielen diese Schulen eine zentrale Rolle, weil sie viel näher an der Praxis sind als Hochschulen.“

Neue Strategie: Unternehmen bewerben sich bei Bewerbern

Unterdessen schlagen die Unternehmen bei der Suche nach Azubis und Mitarbeitern neue Wege ein. „Die klassische Bewerberrekrutierung ist kaum noch erfolgreich und dauert immer länger. Social Recruiting könnte eine Lösung gegen den Fachkräftemangel sein, wobei wir strenggenommen von einem Arbeitskräftemangel sprechen müssen“, sagte Markus Humpert, Geschäftsführer der Wirtschafts-Serviceagentur „X4B“.

Die Business-Experten aus Hannover haben bereits über 30 Social-Recruiting-Kampagnen für 24 Unternehmen durchgeführt, bei denen neue Beschäftigte gezielt auf den sozialen Medien wie Facebook, Tiktok und Instagram gesucht wurden. Dabei hätten Humpert und seine Kollegen durchschnittlich 25 Bewerber gefunden, von denen jeweils mindestens fünf dem Suchprofil der Arbeitgeber entsprochen hätten.

Hat wertvolle Tipps zum Umgang mit Social Recruiting: X4B-Geschäftsführer Markus Humpert. | Foto: Axel Herzig

„Wir haben gemerkt, dass es wichtig ist, gezielt diejenigen zu adressieren, die wir als die ‚latent Suchenden‘ bezeichnen“, berichtete Humpert. 30 bis 50 Prozent der Beschäftigten seien zwar nicht aktiv auf der Suche nach einem neuen Job, aber durchaus offen für Angebote und über soziale Medien zu erreichen. Zudem empfahl der X4B-Chef den Unternehmen, das Bewerbungsverfahren so einfach wie möglich zu gestalten. „Kompetente Arbeitskräfte sind oft sehr bescheidene Bewerber“, weiß Humpert.

Vorsicht: Bewerber reagieren auf E-Mails nicht

Eine weitere Erkenntnis der bisherigen Kampagnen: „Auf E-Mails wird kaum reagiert. Die Kontaktaufnahme zu Bewerbern funktioniert am ehesten per Telefon oder über Messenger-Dienste. Nur wir Büromenschen sitzen tagtäglich vorm Rechner und haben das E-Mail-Programm auf.“ Außerdem forderte Humpert die Firmen zu mehr Tempo auf: „Lassen Sie Bewerber nicht wochenlang warten und im Ungewissen. Das können Sie sich heute nicht mehr leisten.“

„Success loves speed“ (Erfolg liebt Geschwindigkeit), lautet auch die Devise von Harald Grüne. Der Geschäftsführer von Robot Food Technologies sucht neue Mitarbeiter für sein Werk in Wietze (Landkreis Celle) praktisch nur noch über soziale Medien, weil Zeitungsannoncen ebenso wie Anzeigen auf Online-Stellenportalen immer weniger Erfolg zeigen. „Wir bewerben uns beim Bewerber“, schilderte Grüne das Rekrutierungsmodell seiner Firma, die zu den führenden Herstellern von Füll- und Verpackungsmaschinen für die Lebensmittel- und Kosmetikindustrie zählt. Die Kontaktaufnahme für die Bewerber müsse dabei so einfach wie möglich sein. „Der muss praktisch im Bus sitzen und sich bewerben können“, sagte Grüne und betonte, wie wichtig eine schnelle Reaktion ist: „Selbst, wenn sich der Bewerber am Sonntag meldet, muss er sofort eine Antwort bekommen.“

„Wenn man nicht weiß, dass es uns gibt, kann sich bei uns auch keiner bewerben. Ich muss überall dort omnipräsent sein, wo die Schüler sind“: Harald Grüne von Robot Food hat ein Rezept gegen den Azubi-Mangel. | Foto: Axel Herzig

Beim Social Recruiting durch Image-Videos und Testimonials schwört der Robot-Food-Chef auf Authentizität: „Wenn Sie der Geschäftsführer sind, nehmen Sie das Video selber auf. Lassen Sie Fehler zu, das ist authentisch. Sie müssen Einblick in Ihre Firma gewähren und praktisch Einblick in Ihr Wohnzimmer geben.“ Der Einsatz von Schauspielern ist für Grüne absolut tabu. „Wenn Sie mit Ihrem neuen Bewerber durch die Halle gehen, dann muss der Mitarbeiter aus dem Video auch da sein“, betonte der Unternehmer.

Erst nach erfolgreicher Kontaktaufnahme gewinnt der Bewerbungsprozess bei Robot Food an Tiefe. Der Auswahlprozess besteht aus fünf Schritten, bei denen dann genau abgecheckt wird, ob Bewerber und Unternehmer zueinander passen. Dabei hat Grüne folgenden Tipp für die Chefs: „Bilden Sie eine ungerade Anzahl an Mitarbeitern aus Ihrer Firma, um ein Mehrheitsvoting zu haben. Sie müssen auch zulassen, dass das Team Sie überstimmen darf. Und haben Sie bei dem Prozess immer mindestens eine Frau dabei. Die erkennt sofort, ob der Typ Sie durch den Winter bringt.“

Als Impulsredner vor den 500 Teilnehmern des Arbeitgeber-Forums in Hannover tritt der Digitalexperte Sascha Lobo auf. Er fordert von den Unternehmern mehr Mut und Innovation beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz. | Foto: Axel Herzig

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