1. Juni 2023 · Soziales

Unvergessen, aber nicht unvermeidbar: Wie das ICE-Unglück von Eschede bis heute wirkt

Als am Morgen des 3. Juni 1998 der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ von München nach Hamburg abfährt, ist das Vertrauen in den Hochgeschwindigkeitszug noch unerschütterlich. Sieben Jahre lang befindet sich die erste Generation des Intercity-Express bereits im Regelbetrieb, und nicht einer der bis zu 280 Stundenkilometern schnellen Züge hat bislang einen nennenswerten Unfall mit Personenschaden erfahren. Sechs Kilometer vor dem idyllischen Heidedorf Eschede geschieht dann jedoch das Unvorstellbare: Aufgrund von Materialermüdung – so heißt es später im Untersuchungsbericht des Eisenbahn-Bundesamtes – bricht bei Tempo 200 eine Radachse im ersten Personenwagen hinter dem Triebkopf.

Etwa fünfeinhalb Kilometer fährt der Zug trotzdem noch stabil weiter, bis sich der gelöste Radreifen in einer Weiche verhakt und eine Kettenreaktion auslöst. Der ICE entgleist und reißt den Pfeiler einer Betonbrücke weg, die daraufhin einstürzt. Einer der 14 Waggons wird von den insgesamt 200 Tonnen schweren Trümmerteilen halb zerquetscht. Die anderen Wagen schieben sich im Zickzack zusammen oder türmen sich auf. 101 Menschen sterben bei dem schlimmsten Eisenbahnunfall in der Geschichte der Bundesrepublik. 108 Menschen werden verletzt, 70 davon schwer. Die Bergungsarbeiten dauern sechs Tage.

Bei der ICE-Katastrophe in Eschede am 3. Juni 1998 sind 101 Menschen gestorben, 108 wurden verletzt. | Foto: Nils Fretwurst/Gemeinfrei

„Die moderne Technik gibt uns viel Lebenserleichterung und sie gibt uns viel Lebenssicherheit. Aber wie jede menschliche Hervorbringung wird die Technik niemals unfehlbar sein. Wer sie nutzt, muss auch mit ihren Risiken rechnen. Täglich benutzen wir Autos, Züge oder Flugzeuge und vergessen allzu oft – auch ich –, dass wir eigentlich für jede glückliche Landung, für jede glückliche Ankunft dankbar sein müssten“, sagte der damalige Bundespräsident Roman Herzog am 21. Juni 1998 in seiner Trauerrede für die Opfer der Zugkatastrophe. Mit der unbeschränkten High-Tech-Gläubigkeit der Deutschen war es plötzlich vorbei. Wie der damalige Verkehrsminister Matthias Wissmann (CDU) berichtete, war tatsächlich nur ein einziger gummigefederter Radreifen die Ursache für die Katastrophe. Dabei handelte es sich um eine Neuentwicklung der Deutschen Bahn, die unter anderem das lästige Ruckeln im Speisewagen verringern sollte.

Experten stellen Versäumnisse fest, keine rechtlichen Folgen

Das mit der Aufklärung beauftragte Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit (Fraunhofer LBF) stellte fest, dass sich diese Radreifen beim ICE schneller abnutzen als von der Deutschen Bahn zunächst angenommen. Außerdem kritisierte das Fraunhofer eklatante Wartungsfehler: Das gebrochene Rad hatte bereits eine Laufleistung von fast 1,8 Millionen Kilometer hinter sich und hätte längst ausgetauscht werden müssen – zumal es schon vor dem Unfall bekannt war, dass die Räder nach 60.000 Kilometern erste Mängel durch Verschleiß aufweisen. Rechtlich hatte das alles jedoch so gut wie keine Konsequenzen. Der Prozess gegen einen Betriebsingenieur des Radreifen-Herstellers, einen technischen Bundesbahnoberrat und einen Abteilungspräsidenten der Deutschen Bahn vorm Landgericht Lüneburg wurde nach acht Monaten und 55 Verhandlungstagen gegen eine Geldbuße von jeweils 10.000 Euro eingestellt.

Die Deutsche Bahn zog infolge des ICE-Unglücks von Eschede gleich mehrere Konsequenzen: Anstelle von gummigefederten Radreifen wurden alle ICE wieder mit den bewährten Vollgussrädern ausgestattet und der Einbau von Weichen in direkter Nähe von Brücken war ab sofort tabu. Die 1998 eingeführte Begrenzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 250 Stundenkilometer wurde jedoch schon in den 2000er-Jahren weitgehend wieder zurückgenommen.

Bei der Festlegung der Ultraschallprüfungsintervalle für ICE, um Rissbildungen frühzeitig zu entdecken, gab es ebenfalls ein Hin und Her. Nach 1998 wurden die Intervalle erst heruntergeschraubt, dann aber aus Kostengründen wieder heraufgesetzt. Nachdem im Juli 2008 ein ICE-3 am Kölner Hauptbahnhof aufgrund einer gebrochenen Triebsatzwelle entgleiste, ordnete die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) eine Verkürzung der Wartungsintervalle auf 30.000 Kilometer an. Seit 2013 müssen die ICE wieder nur noch alle 240.000 Kilometer zur Ultraschallkontrolle. Anscheinend ist das inzwischen ausreichend, denn weitere Achsbrüche sind seitdem nicht bekannt geworden.

Ultraschall-Sicherheitsprüfung am Radsatz: Selbst fürs Auge unsichtbare Risse erkennt Hakan Ilgin im Instandhaltungswerk der Deutschen Bahn in Köln frühzeitig. | Foto: Porsche Consulting/Marco Prosch

Neben der Deutschen Bahn haben auch die Rettungsdienste ihre Lehren aus dem Bahnunglück von Eschede gezogen. Tatsächlich war es der erste große Unfall in Deutschland, bei dem eine umfangreiche und systematische Notfallseelsorge und Einsatznachsorge durchgeführt wurde. Vor allem der Abtransport der Leichenteile stellte für die Einsatzkräfte von Feuerwehr, Rettungsdienst und Technischen Hilfswerk (THW) eine riesige Belastung dar. Inzwischen sind Einsatznachsorge-Teams, die sich aus geschulten Rettungskräften und psychosozialen Fachkräften zusammensetzen, beim THW oder die psychosoziale Notfallversorgung beim DRK ganz selbstverständlich.


Dieser Artikel erschien am 2.6.2023 in Ausgabe #100.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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