Die Sonntagsfrage ist in Wahljahren so beliebt wie gefürchtet. Vier renommierte Meinungsforschungsinstitute erheben in unregelmäßigen Abständen die Stimmungslage im Land. Allein in diesem Jahr hat Forsa im Auftrag niedersächsischer Tageszeitungen schon viermal nachgefragt, Infratest dimap hat für den NDR seit Jahresbeginn zwei Erhebungen vorgenommen, genauso viele wie INSA für Bild. Macht in Summe also acht Sonntagsfragen seit Neujahr. Im Auftrag unseres Verlages, der Drei-Quellen-Mediengruppe, erfasst zudem das Institut für Demoskopie Allensbach regelmäßig die Meinung der Niedersachsen; die Sonntagsfrage wurde hier zuletzt im Oktober beantwortet. Allensbach geht den aufwendigen Weg der persönlichen Befragungen, daher genießt dieses Institut in Fachkreisen einen ganz herausragenden Ruf.

Schaut man auf eine Gesamtschau der Ergebnisse aller Umfrageinstitute, sind kleine Schwankungen zu erkennen, gewisse Trends zeichnen sich ab. So kann von einem Kopf- an Kopf-Rennen von SPD und CDU ausgegangen werden, beide rangeln um die Führung bei 30 Prozent, wobei die Sozialdemokraten seit über einem Jahr vorn liegen. Danach kommen die Grünen, die alles daransetzen werden, oberhalb der 20er-Marke zu bleiben. Mit deutlichem Abstand folgen FDP und AfD, die jeweils ein paar Prozentpunkte über der Fünf-Prozent-Hürde liegen und damit wohl sicher dem nächsten Landtag angehören werden. Die Linke hat derweil zuletzt im Oktober 2021 den Schwellenwert übersprungen.

Aber dann gibt es da auch noch andere Zahlen, die immer mal wieder auftauchen und vor allem von Politikern in den sozialen Netzwerken geteilt werden – zumindest immer dann, wenn die Ergebnisse genehm sind. Seit einigen Jahren etablieren sich kleine Anbieter von Wahlprognosen, die den Markt der politischen Meinungsumfragen um eine spannende Dimension erweitern. Denn sie betrachten nicht nur die potenziellen Zweitstimmenergebnisse und die Beliebtheit der Spitzenkandidaten, sondern sie schauen auch direkt in die Wahlkreise. Erst vergangene Woche, nachdem Infratest Dimap und Forsa fast zeitgleich ihre Zweitstimmenprognosen präsentiert haben, hat auch die Seite „wahlkreisprognose.de“ ihre neuen Zahlen vorgelegt. Bei den Zweitstimmen liegt die SPD dort mit 34,5 Prozent vorn, die CDU kommt auf 25 Prozent, die Grünen auf 17 Prozent, die AfD erhielte 8,5 und die FDP 7,5 Prozent. Interessanter ist jedoch die Erststimmen-Prognose, dabei liegen ebenfalls die Sozialdemokraten vorn. Insgesamt 67 Wahlkreise kann die SPD demnach wohl für sich gewinnen. Die CDU hingegen erreicht nur noch 16 Direktwahl-Mehrheiten. Die Grünen haben die Chance auf vier direkt gewählte Abgeordnete.
Allerdings: Die Ergebnisse schwanken enorm im Lauf der Zeit. Wie viel kann man auf die Prognosen also geben? Das Politikjournal Rundblick hat nachgefragt bei den beiden populärsten Anbietern von Wahlkreis-Prognosen:
Die kleine Firma „WK Research“, die die Webseite „wahlkreisprognose.de“ betreibt, hat ihren Sitz in Berlin. Valentin Blumert ist ihr Chef, er hat sich auf kleinräumige Meinungs- und Marktforschung spezialisiert und zählt neun „Freelancer“ zu seinem Team für die Landtagswahl in Niedersachsen. Laut eigener Auskunft nutzt „WK Research“ für seine Berechnungen „aktuelle demoskopische Trends aus unseren Befragungen, sowie die Faktoren Sozialstruktur, Milieubindung, frühere Wahlergebnisse, Wahlmobilisierung, Stimmensplitting und Kandidateneffekte von der kommunalen Ebene an aufwärts“. Die Telefon-Interviews oder Online-Panels, die seine Prognosen unterfüttern sollen, werden bei externen Dienstleistern hinzugekauft. Für die telefonischen Befragungen ist laut Whitepaper des Unternehmens das Hamburger Markt- und Meinungsforschungsinstitut „Bambus Research“ zuständig, die Online-Panels verantwortet die „CINT Deutschland GmbH“.

Um eine geeignete Stichprobe für die Telefoninterviews bestimmen zu können, orientiert sich „WK Research“ am fortgeschriebenen Zensus, beim Online-Panel können nur verifizierte wahlberechtigte Bürger teilnehmen, heißt es in dem Papier. Mit seinem Geschäftsmodell möchte Blumert eine Lücke schließen, die die herkömmlichen Meinungsforschungsinstitute offenlassen, erklärte er im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. Einige Direktkandidaten aus Niedersachsen zählen zu seinen Kunden, sagt er. Wie viele genau, will er aber nicht verraten. Blumert hält nichts davon, sich über diese Kundenzahlen zu profilieren. Die Zahlen, auf die es ihm ankommt, sind die Prognosen – und deren Genauigkeit. Bei den jüngsten Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen habe er mit seinen Prognosen im Ranking der Institute weit vorn gelegen, gibt er an.
Auch hinter „election.de“ steckt wenig mehr als ein Ein- bis Zwei-Mann-Betrieb. Matthias Moehl, ein Diplom-Informatiker aus Hamburg, betreibt seit 20 Jahren die Webseite rund um die kleinräumigen Wahlprognosen. Auf Rundblick-Anfrage erklärte Moehl, an der Wahlkreisprognose für die Landtagswahl Niedersachsen sei noch ein weiterer Mitarbeiter beteiligt. „Im Übrigen gibt es einen regen Daten- und Meinungsaustausch mit verschiedenen Politikwissenschaftlern, Wahlforschungsinstituten und zivilgesellschaftlichen Organisationen“, sagt er. Laut Selbstauskunft berücksichtigt das eigens entwickelte Projektionsverfahren „verschiedene wahlentscheidende Faktoren wie landesweite Trends, bisherige Ergebnisse im Wahlkreis und die nominierten Kandidaten“. Um den Kandidaten-Faktor miteinzubeziehen, nutzt Moehl eine personenbezogene Wahlhistorie, schreibt er. Er schaut also, wie häufig der Kandidat bereits Wahlen gewonnen hat.

Überhaupt setzt Moehl stärker auf eine langfristige Betrachtung der lokalen Wahlergebnisse und weniger auf aktuelle repräsentative Befragungen. Für jeden Wahlkreis lässt der Informatiker 100.000 Wahlausgänge vom Computer simulieren und gewinnt dadurch Erkenntnisse über die Wahrscheinlichkeit eines Wahlsieges für einen bestimmten Bewerber. Drei Kategorien hat er dafür: „sicher“, „wahrscheinlich“ oder „Vorsprung“. Zur eigenen Erfolgsbilanz schreibt Moehl: „In der letzten Prognose vor der Landtagswahl 2017 waren sämtliche als sicher eingeschätzte Wahlkreise, fast alle der wahrscheinlichen Wahlkreise und die überwiegende Mehrzahl in der Kategorie Vorsprung korrekt vorhergesagt.“ Bis sechs Wochen vor der Wahl wurden die Berechnungen alle 14 Tage neu vorgenommen, nun wird wöchentlich simuliert und zuletzt wird es am Freitag vor der Wahl neue Zahlen geben. Wer laufend über seine Direktwahlchancen informiert werden möchte, kann bei Moehl ein unverbindliches Angebot anfragen.
"In der letzten Prognose vor der Landtagswahl 2017 waren sämtliche als sicher eingeschätzte Wahlkreise korrekt vorhergesagt."
Doch wird dieses Angebot angenommen? Bei jenen Parteien, für die die Direktwahlchancen überhaupt nur von Belang sind (also SPD und CDU und neuerdings auch die Grünen), bewertet man die Wahlkreisprognosen sehr unterschiedlich. Die CDU in Niedersachsen erklärte auf Rundblick-Anfrage: „Wir nutzen vor allem election.de, denn damit haben wir gute Erfahrungen gemacht. wahlkreisprognose.de ist uns zu volatil in den erhobenen Stimmungslagen und passt oft nicht zu anderen Daten. Das nutzen wir nicht.“ Bei der SPD hingegen warnt man sogar vor beiden Anbietern. „Wir haben erhebliche Zweifel an der Methodik und in der Folge an der Belastbarkeit der Daten. Deswegen raten wir unseren Kandidierenden und Mitgliedern zur Vorsicht in der Bewertung dieser Umfragen“, erklärte SPD-Pressesprecherin Vivien Werner