Der Niedersächsische Richterbund (NRB) sieht eine „Gefährdung von Demokratie und Rechtsstaat“. Immer mehr neue Ermittlungsverfahren kommen auf die Staatsanwaltschaften zu, 567.000 waren es im vergangenen Jahr – und damit 40.000 mehr als im Jahr zuvor. Delikte wie Kinderpornographie, Clan-Kriminalität, Hass-Kriminalität oder auch Diebstahl werden immer umfangreicher. Allerdings lässt das von Justizpolitikern aller Parteien geforderte Wachstum an Richter- und Staatsanwalt-Stellen zu wünschen übrig. Für den Landesetat 2024 hatte Rot-Grün gerade mal Geld für sechs neue Staatsanwälte bereitgestellt. Nun hat der NRB in einer Veranstaltung einen Alarmruf ausgesendet: „Das Vertrauen in den Rechtsstaat ist im Sinkflug begriffen. Das liegt auch daran, dass die Verfahren viel zu lange dauern. Ein Rechtsstaat aber, der nicht funktioniert, liefert Wasser auf die Mühlen der Systemfeinde“, sagte der NRB-Landesvorsitzende Frank Bornemann (Foto). Die helfende Hand des Bundes, auch finanziell, sei nicht erkennbar – und Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sei in dieser Hinsicht „ein kompletter Totalausfall“. Der Bundesminister sei „kein Vertreter der Justiz, sondern ein Lobbyist der Anwaltschaft“, meinte Bornemann.

In einer von Rundblick-Redakteur Niklas Kleinwächter geleiteten Podiumsdiskussion beleuchteten Justizvertreter und Politiker die Lage noch detaillierter. Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) meint, die Staatsanwaltschaften seien in der Tat „massiv belastet“. Es gebe aber Bereiche der Justiz, in denen inzwischen eine Unter-Auslastung bemerkbar ist. Daher habe es in diesem Jahr für 20 neue Staatsanwälte und 20 Zivilbeschäftigte bei der besonders belasteten Generalstaatsanwaltschaft in Celle und der Staatsanwaltschaft Hannover eine „Solidaritätsaktion“ gegeben. Die Besetzungen wurden möglich, da in anderen Gerichten Stellen abgegeben oder übertragen wurden. „Das hat geklappt. Die Justiz steht zusammen, wenn es hart auf hart kommt“, sagt Wahlmann und spricht in diesem Zusammenhang von „Binnengerechtigkeit“. Nach den Worten der Celler Generalstaatsanwältin Katrin Ballnus ist das zwar ein guter Anfang, aber lange nicht ausreichend. „Wenn jetzt nicht bald etwas passiert, dann endet es katastrophal“, sagt sie. Die Arbeitsbelastung in der Staatsanwaltschaft Hannover liege bei dem 1,6-fachen der normalen Arbeitszeit. Die Folge seien längere Verfahren und „eine nachlassende Qualität“. Wenn etwa ein Ermittlungsverfahren eingestellt werde, könne irgendwann die Zeit fehlen, dies dem Anzeigeerstatter ausführlich zu begründen und zu erklären. Die Akzeptanz der Justiz hänge aber gerade an dieser Begründung, damit das Verständnis für die Arbeit der Justiz wachse. Nach der Corona-Zeit, berichtet Ballnus, merke man eine deutliche Zunahme von Kriminalität, auch von Jugendkriminalität und Geldwäsche.
„4,1 Prozent des Landeshaushalts gehen an den Haushalt des Justizministeriums. Das ist zu wenig.“
Wie soll es nun weitergehen? Die CDU-Justizpolitikerin Carina Hermann erläutert, zur Zeit der Großen Koalition bis 2022 seien noch 183 zusätzliche Stellen geschaffen worden, Rot-Grün sei nun in der Bringschuld. Evrim Camuz (Grüne) und Ulf Prange (SPD) erwidern, der Schwerpunkt in diesem Jahr habe auf mehr Geld für die Digitalisierung der Justiz gelegen. Zwischen Finanz- und Justizministerium gebe es derzeit aber „gute Gespräche“ mit dem Ergebnis von hoffentlich mehr Stellen im Landeshaushalt für 2025. Einig ist sich die Politikerrunde bei der Bewertung der Rolle des Bundes. „Immer wieder wird der Richtervorbehalt in ein Bundesgesetz geschrieben – das heißt dann mehr Arbeit für die Justiz der Länder, ohne dass das in Berlin bewusst wäre“, klagt Prange. Er stimmt dem Vorschlag von Marco Genthe (FDP) zu: „4,1 Prozent des Landeshaushalts gehen an den Haushalt des Justizministeriums. Das ist zu wenig.“
In der NRB-Veranstaltung gab es noch die parteiübergreifende Klage – mit Einschränkung bei den Grünen – über das neue Cannabis-Gesetz des Bundes. „Hier sieht man wieder: Auf Bundesebene fehlt die Anbindung an die Länder. Die Auswirkungen der Beschlüsse werden nicht bedacht“, betont Genthe. Dass jetzt die Regeln für den gewerblichen Anbau von Cannabis nachgebessert werden müssen, „verstehe ich schlicht nicht“, ergänzt er. Prange von der SPD sagt: „Ich werde wütend, wenn ich an dieses Gesetz denke angesichts der vielen handwerklichen Fehler. Es war gedacht, Polizei und Justiz zu entlasten. Jetzt ist das Gegenteil der Fall.“ Die CDU-Politikerin Hermann meint: „Ich weiß gar nicht, wer das Gesetz am Ende noch wollte – vielleicht nur die Hanf-Lobby.“ Selbst die Grünen-Abgeordnete Camuz räumt ein: „Aus justizpolitischen Gründen hätte ich mir eine andere Regelung gewünscht.“ Generalstaatsanwältin Ballnus berichtet, die Staatsanwälte in Hannover hätten schon im Dezember 2023 begonnen, die Akten zu wälzen, da ja die Amnestie für bisherige Straftäter Bestandteil des neuen Gesetzes ist. Es gehe um rund 100 Untersuchungshäftlinge. „Es war wie so oft: Wir sind von dem Gesetz überrascht worden – und das zusätzlich zu der Belastung, die wir sowieso schon haben.“