Der Tourismus ist zurück auf Vor-Corona-Niveau – zumindest auf den ersten Blick. Mit über 45,7 Millionen Übernachtungen bleibt das Reiseland Niedersachsen nur ganz knapp unter dem Rekordwert aus 2019. Doch während Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) von „sehr positiven Signalen für die überwiegend mittelständisch geprägte Tourismuswirtschaft“ spricht, zeichnet der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) ein ganz anderes Bild. „Die Zukunftsängste in der Branche nehmen zu, die Aussichten sind düster“, sagt Dehoga-Präsident Guido Zöllick.

Der Hoteldirektor aus dem Ostseebad Warnemünde verweist auf eine weitere Auswertung des Bundesamts für Statistik, wonach das deutsche Gastgewerbe 2023 inflationsbereinigt das vierte Verlustjahr in Folge erlebte. „Es wird für die Betriebe immer schwerer, wirtschaftlich zu arbeiten“, warnt Zöllick. Die Branche will deswegen weiterhin für einen geringeren Mehrwertsteuersatz für Speisen in Restaurants kämpfen, die Hoteliers und Gastronomen fordern auch einen Bürokratieabbau. „Dazu gehören eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes und ein Abschaffen überflüssiger Dokumentations- und Berichtspflichten“, so der Dehoga-Präsident.

Laut den Tourismusexperten der IHK Nord fallen im Gastgewerbe insgesamt 125 gesetzliche Verpflichtungen an, von denen 70 Prozent nicht im Zusammenhang mit dem Tagesgeschäft stehen, sondern nur für die Behörden ausgeführt werden. Durchschnittlich 14 Arbeitsstunden seien die Hoteliers pro Woche allein damit beschäftigt, den staatlichen Pflichten nachzukommen. Mit der geplanten Abschaffung des Meldescheins für deutsche Übernachtungsgäste habe die Ampel-Koalition einen Schritt in die richtige Richtung unternommen. Viele weitere müssen laut IHK-Nord-Präsident Bernhard Brons jedoch noch folgen – wie etwa die Abschaffung des Meldescheins auch für Urlauber aus anderen Ländern sowie für inländische Geschäftsreisende mit ausländischem Pass.

„Die Regierung muss vom Reagieren ins Agieren kommen und ein Bild mit guten Rahmenbedingungen für unseren Wirtschaftsstandort entwickeln. Mit wenig Bürokratie, viel Digitalisierung, transparenten Verfahren sowie innovativen Nachhaltigkeitsmaßnahmen von den Unternehmen, können wir dem Tourismus im Norden Rückenwind geben“, sagte Brons nach der „Norddeutschen Tourismuskonferenz“ in Papenburg vergangene Woche. Bei ihrem Treffen stellten die mehr als 100 Touristiker auch die Forderung auf, dass der Trend zum umweltfreundlichen Urlaub mit einem besseren Bus- und Bahnangebot im ländlichen Raum gefördert werden müsse.
Den Tourismusexperten im niedersächsischen Landtag sind die Sorgen der Branche nicht unbekannt. „Mit über sieben Prozent der Erwerbstätigen und über fünf Prozent der Wirtschaftsleistung gehört der Tourismus zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen in Niedersachsen. Uns ist aber auch klar, dass es Baustellen gibt“, sagte Björn Meyer, der tourismuspolitische Sprecher der SPD, in der Diskussion um eine neue Tourismusstrategie im Landtag. „Eine solche Strategie bietet Planungssicherheit für die Branche und ermöglicht uns als Politik, zielgerichtet zu fördern“, erläuterte Meyer.

Die Grundlagen für das tourismuspolitische Handeln zwischen Harz und Küste würden noch aus dem Jahr 2015 stammen und seien unter dem damaligen Wirtschaftsminister Olaf Lies erarbeitet worden. Durch die Corona-Pandemie hätten sich einige Vorzeichen im Tourismussektor jedoch geändert, zudem sei die Strategie ohnehin nur auf zehn Jahre angelegt gewesen.
„Gäste haben ein ganz anderes Bewusstsein für Gesundheit entwickelt“, weiß Meyer. Mit rund 40 hochprädikatisierten Heilbädern und Kurorten sei Niedersachsen in diesem Bereich grundsätzlich gut aufgestellt. „Dieses Prädikat gibt es jedoch nicht zum Nulltarif. Infrastruktur wie Thermalbäder oder ein Kurpark müssen unterhalten werden. Gerade an Tourismuskommunen wird mit recht ein erhöhter Anspruch an Barrierefreiheit gestellt“, sagte der Landtagsabgeordnete aus dem Ammerland. Außerdem würden diese Kommunen zwar in der Hochsaison in der Einwohnerzahl erheblich anwachsen, im kommunalen Finanzausgleich werde dies aber so gut wie nicht berücksichtigt.

Zumindest etwas Abhilfe soll ein neuer Haushaltsposten schaffen: Das Land Niedersachsen stellt erstmals zwei Millionen Euro zur Verfügung, um Mehrausgaben für touristische Infrastruktur in Kurorten auszugleichen. Der CDU-Landtagsabgeordnete Axel Miesner kritisierte den neuen Haushaltsansatz als „bescheiden“. „Zugesagt war ursprünglich eine zweistellige Zahl. Da muss ein bisschen was kommen von euch“, rief er den Regierungsvertretern zu. Auch der Heilbäderverband Niedersachsen (HBV) ist mit dieser Summe nicht zufrieden.
Der HBV-Vorsitzende Norbert Hemken wertet die Zusage zwar als „positives Signal“, beziffert den Investitionsstau jedoch auf mindestens 43 Millionen Euro. „Kranken unsere Kur- und Heilbäder, kranken auch Mensch und Wirtschaft“, warnte der Kurdirektor aus Bad Zwischenahn beim achten „Niedersächsischen Bädertag“ im November. Die Heilbäder und Kurorte seien schließlich nicht nur für rund die Hälfte der Übernachtungen in Niedersachsen verantwortlich, sondern würden auch umgerechnet 100.000 Vollzeitarbeitsplätze zur Verfügung stellen.

Während SPD, CDU und Grüne tourismuspolitisch an einem Strang ziehen, schießt die AfD quer. „Wenn wir Niedersachsen als Urlaubsziel attraktiver machen wollen, insbesondere für den Urlaub in der Heimat, müssen wir die natürliche Schönheit unseres Landes bewahren“, sagte Marcel Queckemeyer. Der AfD-Landtagsabgeordnete warnte vor der „Bedrohung“ des Tourismusstandorts durch Photovoltaikanlagen und Windparks. „Wer entscheidet sich schon für einen Urlaub unter Rotorblättern, wenn er die Wahl hat, unter Palmen zu entspannen“, fragte er und warf Rot-Grün vor, „ideologische Ziele auch im Tourismus durchzusetzen“.

Der Wirtschaftsminister erwiderte darauf, dass man tatsächlich in den touristischen Windenergieregionen einen Fehler mache: „Wir erklären den Touristen noch nicht genug, was wir da machen, weil die neugierig sind – aber weggeblieben ist deswegen noch keiner. Darum muss man hier nicht anfangen, solche Geschichten zu erzählen.“ Was die Weiterentwicklung des Tourismus betrifft, stellt Lies allerdings nicht nur im Landtag Widerstände fest. „Wir erleben inzwischen, dass es Regionen gibt, die sich gegen Zukunftsinvestitionen im Tourismus sperren, weil sie sagen: Es ist genug“, berichtete er und betonte: „Wenn wir den Tourismus weiterentwickeln wollen, müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen vor Ort davon profitieren.“

„Wenn man eine Strategie aufsetzt, muss man auch sagen, was man nicht will“, sagte der SPD-Abgeordnete Meyer. Die Fachleute hätten dem Tourismusausschuss deutlich gemacht, dass es wenig Sinn mache außerhalb der Niederlande um ausländische Urlauber zu werben. Mit einer Million Übernachtungen sind die Niederländer die mit Abstand größte Besuchergruppe, erst weit dahinter folgen Dänemark (369.000), Polen (349.000) und die Schweiz (188.000). Was den Auslandstourismus angeht, rangiert Niedersachsen nur auf Platz 7 unter den Bundesländern – knapp vor Hamburg.

91,7 Prozent der Übernachtungen in niedersächsischen Herbergen wurden 2023 von Touristen aus Deutschland gebucht. Der Wirtschaftsminister will Niedersachsen deswegen noch stärker im Wettbewerb mit ausländischen Urlaubszielen positionieren. „Wir müssen deutlich machen, wie attraktiv, wertvoll und vielfältig Urlaub im Inland ist“, sagte Lies. Als zentrale Herausforderungen für den Tourismus sieht er die Digitalisierung sowie die ökologische und soziale Nachhaltigkeit. Für die Fachkräfteabwanderung während Corona gibt der SPD-Politiker der Branche eine nicht unerhebliche Mitschuld. 2020 seien 64 Prozent aller Beschäftigten im Gastgewerbe im Niedriglohnbereich entlohnt gewesen. Lies: „Wir brauchen anständige Tarife, anständige Löhne, anständige Arbeitsbedingungen, sonst kriegen wir im Wettbewerb niemanden mehr.“
Im Vergleich zum Vorjahr legten 2023 zwar alle niedersächsischen Reisegebiete bei den Übernachtungszahlen kräftig zu. Im Vergleich zum Jahr 2019 haben Nordsee, Harz, Braunschweiger Land und die Region Hannover-Hildesheim jedoch jeweils im sechsstelligen Bereich an Übernachtungen verloren. Klar über dem Vorkrisen-Niveau lag dagegen der Tourismus entlang der Weser – insbesondere in der Region Mittelweser – sowie in der Lüneburger Heide und der GEO-Region (Grafschaft Bentheim, Emsland, Osnabrücker Land).

Campingplätze, Ferienzentren und Ferienhäuser sind seit 2019 immer beliebter geworden. Schulungs- und Freizeitheime sowie Gasthöfe und Pensionen werden erheblich weniger frequentiert. Der Anteil der Übernachtungen in der Hotellerie ging im Vergleich zu 2019 insgesamt zurück, liegt aber immer noch bei 44,3 Prozent (20,3 Millionen).

Ernsthafte Sorgen machen sich die Hoteliers in der Landeshauptstadt. Laut einer Erhebung des Wirtschaftsinformationsdienstes „CoStar“ landet Hannover bei der Zimmerauslastung im bundesweiten Vergleich mit 19 Großstädten auf dem vorletzten Platz, nur Dortmund ist schlechter. 2023 habe die Zimmerauslastung bei 57,1 Prozent gelegen, im Dezember sogar nur bei 46,6 Prozent.
„Das zeigt, dass die Standortvermarktung in allen Segmenten – ob Geschäftsreise- oder Privattourismus – hinter anderen Städten zurücksteht. Wir brauchen deshalb unbedingt eine Gesamtstrategie gemeinsam mit der Tourismuswirtschaft“, sagt die hannoversche Dehoga-Geschäftsführerin Kirsten Jordan und sieht hier die Hannover Marketing- und Tourismusgesellschaft (HMTG) in der Pflicht.
Mit durchschnittlichen Übernachtungskosten von 114,10 Euro befinde sich Hannover zwar beim Zimmerpreis-Bundesvergleich im vorderen Mittelfeld. Im Vergleich zu Energie (plus 32,6 Prozent) und Personalkosten (plus 16 Prozent) seien die Zimmerpreise mit 9 Prozentpunkten jedoch relativ gering gestiegen.
