TK-Landeschef fordert: „Die elektronische Patientenakte muss verbindlich werden“
Dirk Engelmann ist der Leiter der niedersächsischen Landesvertretung der Techniker-Krankenkasse. Im Gespräch mit Rundblick-Redakteur Niklas Kleinwächter freut sich der 47-Jährige über erfolgversprechende Ansätze zur Reform des Gesundheitswesens – fordert aber gleichzeitig mehr Schubkraft und Entschlossenheit von der Landesregierung. Aus Modellprojekten müssten flächendeckende Angebote werden. Den Podcast hören Sie zum Beispiel hier: Podigee, Spotify, Apple-Podcast, Deezer…
Rundblick: Herr Engelmann, Sie sind seit 2020 in Hannover und für Niedersachsen zuständig. Wie betrachten Sie die Ansätze zur Digitalisierung im rot-grünen Koalitionsvertrag? Dort reicht es mit Bezug auf den Gesundheitsbereich ja nur zu ein paar dürren Sätzen…
Engelmann: Immerhin stehen die Sätze dort, und das ist wichtig. Wir sind in Niedersachsen bei der Digitalisierung nicht mehr am Anfang – aber wir sind längst noch nicht dort angelangt, wo wir sein könnten. Wenn man an das Einkaufen denkt, denkt man sofort an Amazon. Aber beim Arztbesuch kommt die Assoziation an volle Wartezimmer statt Online-Terminbuchung, Formularausfüllen am Tresen statt elektronische Patientenakte und Einlösen eines Rezepts auf Papier in der Apotheke statt „eRezept“.
Rundblick: Was ist denn mit der elektronischen Patientenakte (ePA)?
Engelmann: Die ist von großem Vorteil. Sie sieht vor, dass alle relevanten Daten darin elektronisch gespeichert und für Versicherte wie Ärzte verfügbar sind. Der Patient entscheidet selbst, welcher Arzt auf die Daten zugreifen kann und welcher nicht. Das Gute ist, dass dann beispielsweise alle Behandlungs- und Labordaten bereits vorhanden sind. Das erspart aufwendigen Papierkram oder Doppeluntersuchungen, und ein Arzt kann sich schnell einen Überblick über bereits vorgenommene Untersuchungen oder die Medikation eines Patienten machen. Das erhöht die Sicherheit und verbessert Behandlung und auch die Arbeitsabläufe in den Praxen.
Rundblick: Hat denn schon jeder diese elektronische Patientenakte?
Engelmann: Die Kassen sind seit Beginn 2021 verpflichtet, allen Versicherten eine ePA anzubieten. Die TK bietet sie seit 2019 an. Auch die Leistungserbringer müssten an die Telematik-Infrastruktur angeschlossen sein. Die Frage ist daher, warum die ePA so selten in den Arztpraxen und Krankenhäusern genutzt wird. Eine wichtige Forderung von uns lautet daher, dass der digitale Informationsaustausch zwischen allen Beteiligten im Gesundheitssystem zum Standard wird. Vieles läuft hier noch über Papier oder über Fax. Das ist gefühlt wie in der Steinzeit.
Rundblick: Woran hapert es denn?
Engelmann: Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind nicht deutlich genug. Bisher ist es so, dass jeder Patient einer Speicherung seiner Daten auf einer elektronischen Patientenakte aktiv zustimmen muss, sonst bleibt es bei der alten Papierform. Wir sollten das ändern und eine Widerspruchslösung einführen. Nur derjenige, der selbst ausdrücklich widerspricht, würde seine Daten dort nicht gespeichert bekommen. Eine solche Änderung würde uns schon viel weiterbringen. Die Bundesregierung bringt dieses sogenannte „Opt-out-Verfahren“ dieses Jahr hoffentlich auf den Weg. Zudem erlebe ich leider in vielen Arztpraxen noch Vorbehalte – die Kassenärztliche Vereinigung, die Verbände und Kammern gerade hier in Niedersachsen sind da schon weiter und wir arbeiten gut zusammen. Dabei sollte uns allen klar sein: Wenn wir uns nicht auf die neuen digitalen Möglichkeiten zubewegen, fallen wir zurück. Viele Geschäfte in der Marktwirtschaft wären längst pleite, wenn sie sich gegen die technischen Neuerungen so sperren würden, wie es einige im Gesundheitswesen noch immer tun.
Rundblick: In der Debatte hört man auch Begriffe wie „App auf Rezept“. Was ist damit gemeint? Und was ist mit der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – und der Video-Sprechstunde?
Engelmann: Eine „App auf Rezept“ kann einen Patienten bei der Genesung unterstützen. Er bekommt dann beispielsweise für eine Physiotherapie Hinweise und Anleitungen für Übungen, die er zuhause mit digitaler Unterstützung selbst leisten kann. Die Kasse bezahlt das, wenn der Nutzen nachgewiesen ist und die Qualität des Produkts stimmt. Die Ärzte sind zudem seit Beginn dieses Jahres verpflichtet, die Kassen elektronisch über eine Krankschreibung zu informieren. Das läuft ganz gut an, holpert vielleicht noch an einigen Stellen. Aber ich bin zuversichtlich, dass dieses Verfahren ein Erfolg wird. Die Video-Sprechstunde hatte ihren großen Schub während der Corona-Pandemie bekommen. Seither haben viele Ärzte und Patienten ihre Scheu davor verloren. Im zweiten Halbjahr 2019 nutzten die TK-Versicherten in Niedersachsen lediglich fünf Mal die Video-Sprechstunde, im ersten Halbjahr 2021 waren es bereits 30.000 Kontakte.
Rundblick: Reichen die Mittel für eine moderne Ausstattung überall?
Engelmann: Bisher wohl nicht. Aber wir müssen raus aus den digitalen Modellvorhaben und hin zu einer flächendeckenden Digitalisierung in der Regelversorgung. Denken Sie an die Situation in den Pflegeheimen und den Krankenhäusern. Die Antwort auf die vielen Rufe nach einer Entlastung der Pflegekräfte von den vielen bürokratischen Anforderungen ist eine gezielte Digitalisierung – das ist auch richtiger Weise ein Thema der Konzertierten Aktion Pflege (Kab.Ni). Denken Sie an den Kontakt zwischen Pflegeheimen, Ärzten und betreuenden Angehörigen, da geht es um viele Details wie die Medikationspläne, die Anwendung von Heilmitteln, die Einweisung ins Krankenhaus oder die Entlassung. Ganz vieles in der Kommunikation davon lässt sich zwischen den Beteiligten digital besser erledigen und erspart eine Menge Verwaltung- und Dokumentationsaufwand. Deshalb mein Appell: Wer zurecht Entbürokratisierung fordert, sollte bei der Digitalisierung der Kommunikation zwischen den Einrichtungen anfangen.
Rundblick: Was ist der Grund dafür, dass viele dieser Neuerungen so schwerfällig anlaufen?
Engelmann: Es sind technische Hürden. Ganz oft ist das aber auch eine Einstellungsfrage. Wir müssen wegkommen von der Ansicht „Das muss jetzt nicht auch noch sein“ oder „Das ist mir viel zu schwer“ und hin zu der Haltung „Ich will das alles jetzt tun, weil wir alle davon profitieren“. Technik ist kompliziert, aber lösbar.
Rundblick: Wie können wir in all diesen Fragen am besten vorankommen?
Engelmann: Wir brauchen in Niedersachsen eine neue konzertierte Aktion Digitalisierung im Gesundheitswesen. Die Ärzte, die Apotheker, die Kassen und die Politik – sie alle sollten vom Gesundheitsminister an einen Tisch geholt werden und besprechen, wie konsequente Digitalisierung in Niedersachsens Gesundheitswesen gelingen kann. Es geht um die Entlastung der Fachkräfte, die bessere Patientensicherheit und um den bestmöglichen Einsatz der Ressourcen. Zugleich sollte Niedersachsen im Bund vehement darauf pochen, die Digitalisierung voranzutreiben. In Niedersachsen sollten zehn Prozent der Investitionszuschüsse, die das Land an die Krankenhäuser gibt, für Maßnahmen zur besseren Digitalisierung ausgegeben werden.
Rundblick: Noch ein Wort zum neuen Sozialminister Andreas Philippi. Was halten Sie von ihm?
Engelmann: Seit er im Bundestag sitzt, also seit gut einem Jahr, habe ich gute Gespräche mit ihm geführt. Er ist ein Fachmann, kennt sich gut aus im Gesundheitswesen. Das Thema ist ihm sehr wichtig – und das ist gut für die Sache.
Dieser Artikel erschien am 02.02.2023 in der Ausgabe #019.
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