Gelegentlich reicht ein verlängertes Wochenende in Brandenburg, um an den Grundfesten des niedersächsischen Selbstbilds zu rütteln. Ich war südlich von Berlin unterwegs – in einer Gegend, die eindrucksvoll zeigt, wie Naherholung auf dem nächsten Level aussieht. Gefühlt hat dort jedes zweite Dorf einen See mit Badestrand, Uferpromenade, Marina, Strandbar und Bootsverleih. Man lebt nicht nur am Wasser – man lebt mit ihm. Der Feierabend führt ans Ufer, der Sonntag beginnt mit einem Sprung ins kühle Nass, und wer aus dem Fenster schaut, sieht nicht den Hinterhof mit Mülltonnen, sondern Wellen, die im Abendlicht glitzern. Und plötzlich wird einem klar, warum es Menschen gibt, die ihr Boot mehr lieben als ihr Auto.
In Brandenburg gehören Seen zur Grundausstattung – in Niedersachsen sind sie eine Ausnahmeerscheinung. Wer hier ans Wasser geht, betritt meist eine Sondernutzungsfläche mit Hinweisschild, Auflagen und leichtem Schuldgefühl gegenüber der Unteren Wasserbehörde, bei der man seinen Besuch nicht angemeldet hat. Entsprechend überschaubar ist das Angebot: Wir haben das Steinhuder Meer, wo der größte Nervenkitzel darin besteht, ob man Aalräucherei oder Fischbrötchenstand zuerst ansteuert. Es gibt den Maschsee, der pünktlich ab Pfingsten mit einer Algenwarnung aufwartet. Es gibt das Zwischenahner Meer für den gepflegten Rentnerspaziergang – gut besucht, aber selten belebt. Und es gibt in Braunschweig die „Südsee“, bei der man nie so genau weiß, ob man hier einen Badesee vor sich hat oder ob gerade das Regenrückhaltebecken übergelaufen ist.

Aber warum sollten wir uns damit zufriedengeben? Niedersachsen hat Fläche, Fantasie – und, wenn wir ehrlich sind, auch einige Orte, die als See deutlich gewinnen würden. Höchste Zeit also für eine wasserpolitische Vision. Hier ein paar Vorschläge:
Konzerngewässer Wolfsburg: Der ungenutzte Teil des Werksgeländes wird geflutet. Entstehen soll ein Freizeitgewässer mit schwimmender Gläserner Manufaktur, VW-Badeinsel und Konzernbademeister. Die Werksangehörigen erhalten freien Eintritt und das Recht auf ein Dienst-Kajak – natürlich batterieelektrisch.
Zwischenbadebecken Gorleben: Gorleben bekommt kein Endlager, dafür aber eine tiefblaue Badelandschaft mit thermischer Restwärme und FKK-Strand. Wer hier schwimmt, braucht keine Badehose – nur Vertrauen in jahrzehntelange Zwischenlagerung.
Brockenfjord Harz: Die ohnehin entvölkerten Täler südlich von Goslar werden geflutet, der Nationalpark erweitert – und die Luchse erhalten neben GPS-Halsband jetzt auch Schwimmflügel.
Meyer's Lagune: Die Ems wird aufgestaut, der Stadtkern kanalisiert, und jeden Sonntag schippert ein frisch gebautes Kreuzfahrtschiff zur Besichtigung durch die Altstadt. Papenburg vermarktet sich fortan als „Venedig des Emslands“.
Project SeaHorse: Im Rahmen eines überambitionierten Pilotprojekts zur „Premium-Auenrenaturierung“ werden die Verdener Dünen und der Sandtrockenrasen bei Achim zu exklusiven Trendstränden erklärt – mit Strandkörben, DJ-Deck und Beach Yoga Loft. Auch das Landgestüt Verden geht mit der Zeit und nimmt erstmals in seiner bald 300-jährigen Geschichte auch Seepferdchen in die Zucht auf.
Ob das alles genehmigungsfähig wäre, ist unklar. Erste Vorprüfungen beim NLWKN laufen. Es fehlen noch: ein Raumordnungsverfahren, eine Ausnahmegenehmigung nach § 14 Wasserhaushaltsgesetz – und die Badeordnung.

Nach so viel satirischem Seegang werfen wir nun wieder Anker im politischen Alltag Niedersachsens. Das sind die Themen der heutigen Ausgabe:
◼ Unruhe im Beamtenteich: Finanzminister Heere schickt Widersprüche künftig auf Tauchstation – wer mehr Gehalt will, muss klagen. Der Beamtenbund ruft nach Seenotrettung durch Olaf Lies. Doch der bleibt bislang an Land.
◼ Digitalaskese im Klassenzimmer: Im Landtag wird über das Smartphone in Schülerhand gestritten, wobei sich vor allem die AfD um das Kindeswohl besorgt zeigt. Die pädagogische Leitlinie lautet: Wer TikTok sagt, muss auch Taschenkontrolle sagen. Und wer surfen möchte, soll das gefälligst am Meer machen.
◼ Flächenfraß vs. Flächenschutz: Wie viel darf in Niedersachsen bebaut, bebaggert oder beparkt werden – und was muss grün, still und schützenswert bleiben? Die Fronten verlaufen wie beim Strandkorbduell an der Nordsee: Die einen wollen sich ausbreiten, die anderen den Blick aufs Meer retten. Auch in der Rundblick-Redaktion wird darüber gestritten – im aktuellen Pro & Contra.
Mit einem herzlichen Ahoi verabschiedet sich
Ihr Christian Wilhelm Link