26. Nov. 2024 · TagesKolumne

TagesKolumne: Plattformökonomie

Ich sehe sie meistens im Vorbeihuschen. Sie drücken mir die Tüte mit der Bestellung in die Hand und verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Ich dagegen bin nicht immer schnell genug, um ein bisschen Bargeld aus dem Portemonnaie zu fischen und auf Socken dem Boten hinterherzulaufen: „Moment – das ist für Sie.“ Die beiden Lieferboten allerdings, auf die ich gestern Abend traf, waren ausgebremst. Im Schein der Handy-Taschenlampe hockten sie auf dem Gehweg und versuchten, das Fahrrad des einen Kollegen wieder flott zu kriegen. Ich verkroch mich tiefer in meinen Schal. Diesmal war ich es, die schnell vorbeihuschte.

Food delivery, rider with bicycle delivering food
Der Chef ist eine App: Fahrradbote bei der Arbeit. | Foto: Diamond Dogs via GettyImages

Wer sind die Männer, die einem bei Wind und Wetter das Essen nach Hause bringen? Einen von ihnen traf ich neulich bei der Betriebsrätekonferenz von DGB und Arbeitsministerium. Gregor Jäger hat mit seinen Kollegen in Hannover den ersten Betriebsrat bundesweit bei Lieferando gegründet. Im Schnitt bleibt ein Mitarbeiter 26 Monate bei dem Lieferdienst, erfuhr ich. Zu wenig Zeit, um sich für Arbeitnehmerrechte zu engagieren. Viel zu wenig Zeit, um einen Rechtsstreit auszutragen. Gregor Jäger ist seit sechs Jahren dabei - und mag seinen Job immer noch. Doch mit der Arbeitnehmervertretung könnte es bald vorbei sein, erzählte er. Darum geht es gerade in einem Rechtsstreit vor dem Bundesarbeitsgericht: Ist ein Unternehmen, in dem eine Handy-App die Anweisungen gibt, überhaupt im rechtlichen Sinn ein Betrieb? „Manche von uns haben monatelang keinen Chef zu Gesicht bekommen“, berichtete der Betriebsratsvorsitzende. Wenn sich das Unternehmen entscheidet, die Verwaltung in die Zentrale zu verlegen, dann könnte dem Betriebsrat vor Ort automatisch die Rechtsgrundlage entzogen sein.

Schon für diese persönlichen Einblicke in die Plattformökonomie hat es sich gelohnt, auf der Betriebsrätetagung vorbeizuschauen. Spannend fand ich aber noch eine Erkenntnis: Work-Life-Balance wird möglicherweise überbewertet. Es scheint keineswegs so zu sein, wie es oft vor allem den jüngeren Kollegen unterstellt wird: dass der Job nur eine Baustelle unter vielen im Leben ist und alle von einer Vier-Tage-Woche träumen. Im Gegenteil haben die Fahrer bei Lieferando dafür gestritten, in Vollzeit arbeiten zu dürfen, wenn sie es wollen. Patrick Harmening, Betriebsrat bei der VW-Tochter PowerCo, nennt es ganz altmodisch „Arbeitnehmerehre“, warum seine Kollegen so viel arbeiten. Und selbst die Kollegin aus der Pflege meint sinngemäß: Freie Tage alleine nützen nichts, wenn man danach in das gleiche Hamsterrad wie vorher zurückkehrt.

Fleiß ist schon viel, aber noch nicht alles. Deswegen haben wir noch die Flops des Tages für Sie:

  • Woran Gerhard Glogowski vor 25 Jahren als Ministerpräsident scheiterte


  • Warum gleich zwei Hochschulpräsidenten in Niedersachsen gehen müssen


  • Warum die Staatsanwaltschaft in Hannover doch noch keinen neuen Chef bekommt

Ihnen wünsche ich einen erfolgreicheren Dienstag! Und falls Sie sich heute Abend eine Pizza bestellen: Legen Sie das Trinkgeld frühzeitig bereit, denn die Boten sind fix.

Ihre Anne Beelte-Altwig

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #209.
Anne Beelte-Altwig
AutorinAnne Beelte-Altwig

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail