Mehr als 13 Jahre ist es inzwischen her, dass der frühere französische Diplomat Stéphan Hessel seine populäre Streitschrift veröffentlicht hat: „EMPÖRT EUCH!“, ruft der damals 93-Jährige dem Leser schon vom Titelblatt entgegen. Steht auf und prangert an, was diese Welt zu einer schlechteren macht. Übt euch in friedlichem Widerstand, mahnt der gebürtige Berliner, der Mitglied der Résistance war, das KZ Buchenwald überlebt und später an der UN-Menschenrechtserklärung mitgeschrieben hat. Wenn Hessel ruft, ballt sich einem doch schon beim Lesen die Hand zur Faust, die man sogleich in die Höhe strecken möchte, um mit ihm für eine bessere Welt zu streiten!

Empörung ist das Gefühl der Stunde. Der heiße Herbst 2022 blieb weitgehend aus, im Winter 2023/24 holt man das aber nun dem Glatteis zum Trotze alles nach. Die Bauernproteste gehen nahtlos über in Kundgebungen gegen den erstarkenden Rechtsextremismus. Vielerorts wurde Dreck vor Partei- und Regierungszentralen gekarrt. In Hannover holt die Polizei Klimaschützer von den Bäumen. Der Konflikt wird wieder nach draußen getragen, steht aber auch in Wechselbeziehung zu den inzwischen häufig eher asozialen Netzwerken, wo die leicht zu habende Empörung noch schneller in Häme und sogar Hass umschlägt.
Bemerkenswert sind deshalb jene Fälle, in denen dieses Zuviel an Empörung auch so benannt wird. Erst jüngst war da zum Beispiel die Kritik, mit der man Grünen-Chefin Ricarda Lang überzog, nachdem sie im Fernsehstudio eine falsche Zahl geäußert hat. Weltfremd sei sie, keine Ahnung vom arbeitenden Bürger habe sie, hieß es dann noch halbwegs gemäßigt. Andere Zitate ersparen wir uns an dieser Stelle. Für Aufhorchen sorgte dann aber doch, dass es unerwartete Rückendeckung vom politischen Mitbewerber (und Koalitionspartner in NRW) gab: Ausgerechnet Paul Zimiak (CDU) sprang der 30-Jährigen bei und merkte an: „Das Maß an Empörung und Häme im Netz steht doch in keinem Verhältnis mehr.“

Die Verhältnismäßigkeit geht jedoch mitunter auch an anderer Stelle verloren. Zum Beispiel dann, wenn etwa eine Grünen-Bundestagsabgeordnete in einem Instagram-Posting vom „Bösen in der Welt“ schreibt und damit offenbar den formal korrekt geplanten und mit Stimmen der Grünen abgesegneten Ausbau des Südschnellwegs in Niedersachsens Landeshauptstadt meint.

Der Wunsch danach, von den Mächtigen „da oben“ gehört zu werden, ist ja nicht verkehrt. Das Gehört-werden darf man aber nicht mit dem Durchsetzen der eigenen Ansichten verwechseln. Und gerade die Politiker sollten sich doch nicht mit den Empörten gemeinsam noch weiter empören, sondern eine bessere Politik machen, die eben nicht ständig alle empört!
In der Rundblick-Redaktion haben wir die Empörung kultiviert. Sich zu streiten, halten wir grundsätzlich für etwas Gutes – und wissen dabei auch Stéphane Hessel an unserer Seite, der schrieb: „Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit.“ Allzu rege gefühlsmäßige Aufwallungen hegen wir allerdings ganz schnell durch Buchstaben-Zäune wieder ein. In der heutigen Ausgabe lesen Sie, wie sich meine Kollegin Anne Beelte-Altwig und Rundblick-Chefredakteur Klaus Wallbaum über die bundesweiten Demonstrationen in Folge der „Correctiv“-Enthüllungen unterschiedlich positionieren.

Außerdem berichten wir heute über diese Themen:
• Empörung im Innenausschuss: Das Entsetzen über Ausschreitungen in der Silvesternacht ist groß. Im Innenausschuss des Landtags hat die Polizei nun berichtet, was vorgefallen ist.
• Empörung im Kultusausschuss: Im Kultusausschuss des Landtags wünscht man sich mehr Entgegenkommen des Ministeriums. Wir wissen, was im Brief von Christian Fühner an Kultusministerin Julia Hamburg (Grüne) geschrieben steht.
Ich wünsche Ihnen einen empörend schönen Start ins Wochenende
Ihr Niklas Kleinwächter