TagesKolumne: Beharrungskräfte
Die Begeisterung der jungen Frau ist ansteckend. Unsere Rundblick-Nachwuchsreporterin Elisabeth hat auf der Ideen-Expo mit ihr gesprochen. Die Frau hatte gerade am Stand der Salzgitter AG eine Rose aus Stahl gebastelt und war hörbar stolz. „Man muss handwerklich geschickt sein, das hat mir gut gefallen“, sagt sie und: „Das ist nicht so dieses langweilige Bürositzen.“ Ob sie sich so etwas auch beruflich vorstellen könne, hat Elisabeth weiter gefragt. Aber nein, die junge Frau hatte da schon einen Ausbildungsvertrag in der Tasche. Und raten Sie mal, wo.
Natürlich im Büro. Und sie ist nicht alleine: 2023 war Kauffrau für Büromanagement der beliebteste Ausbildungsberuf bei Frauen, wie das Statistische Landesamt neulich mitgeteilt hat. Trotz vieler toller Angebote, um Mädchen für MINT-Berufe zu gewinnen. Trotz aller Warnungen, dass Verwaltungsjobs die ersten sein könnten, die durch KI ersetzt werden. Trotz überschaubarer Verdienst- und Aufstiegschancen. Und, wie das Beispiel oben zeigt, selbst dann, wenn sie es langweilig finden oder glauben, dass andere es langweilig finden: Junge Frauen werden eisern Bürokauffrauen wie ihre Mütter und Großmütter.
Wenn Veränderung schon bei jungen Menschen so unpopulär ist, wie soll sich dann die Schule verändern, wo noch ganz andere Beharrungskräfte wirken? Der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani aus Dortmund hat dazu eine Menge Vorschläge – und er präsentierte sie mitreißend an einem schwülen Spätsommerabend in Hannover. Während wir uns in der unklimatisierten Aula der IGS Mühlenberg Luft zufächelten und den Schweiß abwischten, bekam ich eine Ahnung davon, dass Schule etwas für Hartgesottene ist.
Viele Lösungen, die El-Mafaalani vorschlug, fand ich verblüffend. Zum Beispiel, dass digitales Lernen ein „Riesenpotential für Chancengleichheit“ biete. Mittlerweile, erfuhr ich, gibt es eine Software, die Wissenslücken in Mathe diagnostizieren kann. Wenn Teenager sagen: „Ich kann Mathe nicht“, dann ist oft nur das Problem, dass sie eine Weile unmotiviert, mit sich selbst beschäftigt, verliebt oder krank waren und den Anschluss verpasst haben. Mit dem maßgeschneiderten Training, das die Software vorschlägt, lässt sich das Versäumte innerhalb weniger Monate nachholen. Super, oder?
Die Grünen, die den Experten eingeladen hatten, waren offenbar nicht so verblüfft wie ich. „Reformen sind kein Problem von Erkenntnis“, sagte Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay trocken. Und auch die Landtagsabgeordnete Lena Nzume meinte: „Es gibt kein Erkenntnisdefizit, aber es fehlt der Transfer in die Schulen.“ Also – eigentlich wissen alle, was zu tun ist, aber keiner weiß wie? Mir kam in den Sinn, dass mein Mann neulich eine Fortbildung zum Thema „Change“ mitgemacht hat. Er kam nach Hause mit leuchtenden Augen und der Erkenntnis: Für Veränderungen braucht man Verbündete – und die gewinnt man, indem man ihnen einen handfesten Vorteil anbietet. Kann das sein, dass viele überlastete Lehrkräfte so einen Vorteil gerade nirgends entdecken können? Und auf jeden Fall wissen wir noch wenig darüber, was für junge Frauen der Vorteil davon sein könnte, vom Weg ihrer Mütter und Großmütter abzuweichen.
Wenn Sie heute den Rundblick lesen, haben Sie auch ein paar Vorteile. Dann wissen Sie nämlich:
- Warum Olaf Lies am Dienstag im Wirtschaftsausschuss ungewöhnlich deutlich wurde.
- Warum Verdi an der MHH wieder streikt.
- Warum spekuliert wird, ob Bernard Meyer die Meyer-Werft verlassen muss.
Ich wünsche Ihnen einen Mittwoch mit noch viel mehr handfesten Vorteilen!
Ihre Anne Beelte-Altwig
Dieser Artikel erschien am 11.09.2024 in der Ausgabe #157.
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