6. Apr. 2025 · 
TagesKolumne

TagesKolumne: Antrag auf Entfesselung: unvollständig

Jonathan Swift ist nicht mit Taylor Swift verwandt. Er hat weder den Suzuki Swift entworfen noch den internationalen Zahlungsverkehr erfunden. Jonathan Swift hat vor 300 Jahren ein Buch geschrieben, in dem ein gewisser Gulliver auf Reisen geht – und dabei unter anderem im Land der Liliputaner landet, wo er von winzigen Männlein mit Strippen gefesselt wird.

Daran erinnerte nun EU-Direktorin Kerstin Jorna – und zwar auf der Hannover-Messe. Vor einem Publikum aus Maschinenbauern, Lobbyisten und Fördermittelverzweifelten erklärte sie: Der europäische Binnenmarkt sei wie Gulliver – stark, groß, tatkräftig. Aber gefesselt durch Bürokratie, Regularien, Formularwesen.

Gulliver gefesselt, Bartleby regungslos, Mephisto dienstbereit: Willkommen im EU-Büro. | Foto: mit KI generiert

Der gefesselte Gulliver ist aber nicht die einzige Parallele aus der Weltliteratur, die sich für den Zustand der EU aufdrängt. Man denke an Herman Melvilles „Bartleby, der Schreiber“ – ein stiller Büroangestellter, der auf jede Anweisung nur sagt: „Ich möchte lieber nicht.“ Bartlebys gutmütigen Chef an der Wall Street treibt das zur Verzweiflung, in Brüssel ist diese Einstellung vermutlich ein bewährtes Karriereprinzip. Denn bislang reagiert das System auf jede noch so berechtigte Bitte um Vereinfachung mit: „Ich möchte lieber nicht.“ Nur wenn es darum geht, Unternehmen mit neuen Berichtspflichten zu überziehen, ist die Bereitschaft zu Handel plötzlich groß. „Ich möchte lieber nicht“ wäre da fast schon ein Befreiungsschlag.

Ebenso treffend ist Jaroslav Hašeks „braver Soldat Schwejk“. Der Soldat tut, was man ihm sagt – selbst wenn es widersprüchlich, sinnlos oder lächerlich ist. Schwejk marschiert immer weiter, freundlich, korrekt, korrekt absurd. Das kennt man auch aus anderer Richtung: Brüssel schreibt 20 Seiten, Berlin macht 80 daraus – und Schwejk geht zur Behörde, lächelt pflichtbewusst und sagt: „Jawohl, ich melde mein Ersatzteillager für ‚CO₂-neutral‘ beschichtete Metallschrauben.“

Die dritte Parallele: Dino Buzzatis „Die Tatarenwüste“. Ein junger Offizier wartet in einer abgelegenen Festung auf den großen Angriff, der nie kommt. Er bleibt, Tag für Tag, Jahrzehnt für Jahrzehnt. Irgendwann ist es zu spät. Ein Bild, das erschreckend gut zur europäischen Wirtschaftspolitik passt. Ein neues Strommarktdesign? Kommt bestimmt. Eine schnellere Auszahlung von Fördermitteln? Auf der To-Do-Liste. Mehr Praxisnähe bei der Gesetzgebung? Haben wir auf dem Schirm! – Aber erst braucht es noch ein Strategiekonzept, eine Plattform, eine Roadmap. Und dann schauen wir weiter.

Kerstin Jorna hat mit Gulliver ein starkes Bild geliefert, das aufrütteln sollte. Aber wer die Realität europäischer Regulierung kennt, weiß: Da sitzt Bartleby im Nebenbüro von Schwejk. Und in der Entbürokratisierungsstelle langweilt sich der Tatarenwächter.

In Brüssel wird über Bürokratieabbau gesprochen, in Niedersachsen zählt man Karrierekandidaten und Exzellenzpunkte. Vielleicht hilft auch hier der Blick in die Literatur, um zu verstehen, wobei es dabei eigentlich hakt. Das sind die Themen der heutigen Ausgabe:

■ Wirtschaftsministerium: Wer wird Nachfolger von Olaf Lies im Wirtschaftsministerium? Die Geschichte ist in Arbeit – Titel, Hauptfigur und Zustimmung der Fraktion werden noch gesucht.

■ Trump-Zölle: Auf der Hannover-Messe reagiert Europa auf neue US-Strafzölle mit Selbstkritik am Binnenmarkt. EU-Direktorin Jorna vergleicht Europa mit dem gefesselten Gulliver.

■ Exzellenz-Strategie: Im Mai fällt die Entscheidung, welche niedersächsischen Unis Fördergelder für Exzellenz-Cluster erhalten. Wissenschaftsminister Mohrs hofft auf sieben Zuschläge.

Es war einmal ein Kontinent, der sich selbst zu Tode verwaltete – und keiner wollte das letzte Kapitel schreiben. Aber wer weiß: Vielleicht wacht Europa morgen früh auf und stellt fest, dass es gar kein Käfer ist, sondern nur schlecht organisiert.

Ihr
Christian Wilhelm Link

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #066.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail
Alle aktuellen MeldungenAktuelle Beiträge
Die neue Fregatte F 126 | Visualisierung: Bundeswehr/Damen Naval
Bundeswehr im Bauboom: Behörden sind vor allem in Nordniedersachsen gefordert
22. Mai 2025 · Klaus Wallbaum2min
Foto: Plenar-TV/Screenshot: Link
Wann kommt die Fußfessel für Gewalttäter? Behrens vertröstet auf die zweite Jahreshälfte
22. Mai 2025 · Klaus Wallbaum3min
Olaf Lies (links) übergibt dem neuen Wirtschaftsminister Grant Hendrik Tonne seine Ernennungsurkunde. | Foto: Link
Lies' Staatskanzlei wächst – und Minister Tonne muss sich von einem Kernteam trennen
21. Mai 2025 · Christian Wilhelm Link4min