Dass die Corona-Pandemie Kinder und Jugendliche auf ganz besondere Weise getroffen hat, ist längst keine neue Erkenntnis mehr. Doch wie muss die Gesellschaft nun darauf reagieren? Im niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur hat sich gestern eine Expertenrunde getroffen, um genau über diese Frage zu diskutieren – aus psychologischer, sozialer und medizinischer Sicht.

Für Landesminister Björn Thümler (CDU) war dabei klar, dass Niedersachsen sich keine „Long-Covid-Generation“ leisten könne und dürfe. Gemeint ist damit eine Generation, die unter den Langzeitfolgen der Pandemie leidet und nachhaltig dadurch geprägt wird. Der beste Schutz dagegen, ist Thümler sich sicher, sei immer noch eine hohe Impfbereitschaft unter denjenigen, die sich impfen lassen können. Dadurch, dass Erwachsene sich nicht impfen ließen, würden aber Kinder in Gefahr gebracht und in ihren Freiheiten beschnitten, sagte er am Montag vor Pressevertretern und ergänzte: „Dieser Appell ist gar nicht freundlich, sondern nachdrücklich gemeint.“ Er verglich das Nicht-Impfen sogar mit damit, betrunken Auto zu fahren. Zwar sei es nicht verboten, sich nicht impfen zu lassen, aber sowohl der betrunkene Autofahrer als auch der Impfverweigerer wüssten, dass sie andere damit gefährden, so Thümler.
Prof. Luise Poustka, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), machte zunächst deutlich, dass es „noch nicht wahnsinnig viele Daten“ zu den psychischen Folgen von Covid gebe. Eine erste größere Langzeitstudie habe allerdings bereits gezeigt, dass nach dem ersten Lockdown etwa 70 Prozent, nach dem zweiten Lockdown dann insgesamt 80 Prozent der befragten Jugendlichen angaben, dass sie sich durch die Situation besonders belastet fühlten. Es wurde dabei angegeben, dass es zu mehr Streitigkeiten in der Familie gekommen sei und dass kleinere Auseinandersetzung viel schneller eskaliert seien. Das Homeschooling hätten viele als starken Druck empfunden.
Prof. Poustka stellte allerdings heraus, dass man die Gruppe der Kinder- und Jugendlichen für eine genauere Betrachtung eigentlich in drei Untergruppen unterteilen müsse. Die erste Gruppe bestehe dann aus jenen, die ein verhältnismäßig stabiles und stabilisierendes Umfeld haben – die Kinder und Jugendlichen aus dieser Gruppe würden gut durch die Phase der Pandemie kommen, sagte Prof. Poustka. Die zweite Gruppe, die es schon deutlich schwerer haben werde, bilden jene aus einem labilen Umfeld, die mit ihrer Familie auf beengtem Raum leben müssen und deren Eltern häufig ein geringeres Bildungsniveau haben. Die dritte und besonders gefährdete Gruppe bestehe aus jenen Kindern und Jugendlichen, die auch schon vor der Corona-Pandemie psychische Probleme hatten. Prof. Poustka berichtete, dass die Zahl der Notaufnahmen in ihrer Klinik auf 100 pro Jahr gestiegen sei. Diese Zahl sei ungewöhnlich hoch und verdeutliche eben auch, dass viele Fälle akut geworden seien. Häufig ging es dabei um Essstörungen oder Suizidgedanken. Einen Aufschub hätte es in diesen Fällen nicht mehr geben können.
Mit den sozialen Dimensionen hat sich derweil Prof. Berthold Vogel, der geschäftsführende Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) in Göttingen beschäftigt. Prof. Vogel zitierte eine Befragung, laut derer zwei Drittel der Jugendlichen das Gefühl hatten, ihre Sorgen und Bedürfnisse seien in der Corona-Pandemie nicht ausreichend gehört worden. Die Einschnitte durch die beiden Lockdowns seien vor allem deshalb für Kinder und Jugendliche so bedeutsam gewesen, weil ihnen in einer besonderen Lebensphase die sozialen Orte verlorengegangen seien: die Schule, der Sportverein, die Freizeitgestaltung. Prof. Vogel sagte, er wolle zwar keine Konkurrenz zwischen den Generationen aufmachen, doch die Jugendlichen seien in einer „vulnerablen Situation“ getroffen worden und stellten doch die soziale Zukunft der Gesellschaft dar. Um nun Folgen ableiten zu können, betont auch der Soziologe, dass eine Unterscheidung zwischen den Gruppen der Betroffenen notwendig sei. So spiele etwa der soziale Status, die Wohnsituation oder die familiäre Situation eine Rolle. Nicht zu unterschätzen sei aber auch die „familiäre Ressource“, wie Prof. Vogel es nannte. Gemeint ist damit die Fähigkeit der Eltern, Zuwendung leisten zu können – was noch über die sozioökonomischen Möglichkeiten hinausreiche.
„Ich bin fassungslos, dass in diesem Jahrtausend Impfstoffe immer noch nicht parallel auch für Kinder getestet werden.“
Thomas Buck, Vorstandsmitglied der niedersächsischen Ärztekammer
Bei der Betrachtung der organischen Folgen einer Covid-Erkrankung bereitet den Wissenschaftlern vor allem das Fatigue-Syndrom große Sorgen. Die gemeinhin als Schlafkrankheit bekannte Störung hat sich in den ersten Untersuchungen als eine von mehreren möglichen Covid-Langzeitfolgen herausgestellt. Thomas Buck, Kinderarzt und Vorstandsmitglied der niedersächsischen Ärztekammer, warnt vor den Auswirkungen, die dieses Syndrom gerade bei Kindern oder Jugendlichen in den wichtigen Entwicklungs- und Lernphasen haben könnte. Buck zitierte eine Studie, wonach derzeit davon ausgegangen wird, dass zwei bis vier Prozent der Kinder und Jugendlichen, die eine Covid-Infektion durchmachen, später an Long-Covid leiden werden. Angesichts dieser Zahlen hält er es für unverantwortlich, Kinder ungeschützt einer Infektion auszusetzen. Kritik äußerte der Mediziner aus Hannover zudem an der Europäischen Arzneimittelbehörde. „Ich bin fassungslos, dass in diesem Jahrtausend Impfstoffe immer noch nicht parallel auch für Kinder getestet werden“, sagte er.

Niedersachsens Wissenschaftsminister Thümler hat nun angekündigt, eine erste Long-Covid-Studie aus Landesmitteln fördern zu wollen – wobei noch nicht ganz klar sei, welchen Anteil des Sozialministerium an der Finanzierung noch übernehmen könnte. Mediziner Buck hat dazu gestern kurz skizziert, wie die Studie ausgestaltet werden soll. Ihm ist es dabei besonders wichtig, das Tempo zu erhöhen. „Unsere Maxime muss sein: erkennen, verstehen, handeln“, sagte er. Die Praxen vor Ort übernähmen dabei eine Filterfunktion. Zuerst müssten bei Covid-Erkrankungen oder bei Symptomen die Organsysteme untersucht werden. Ein wichtiges Forschungsinteresse bestehe darin, herauszufinden, welche Daten überhaupt erhoben werden müssen. Werden Symptome erkannt, soll mit den Erkenntnissen einer Studie dann auch direkt gegengesteuert werden. Die Mediziner wollen in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) mit einem sportlichen Trainingsprogramm auf Long-Covid-Symptome bei Kindern und Jugendlichen reagieren. Buck hofft zudem auf einen Schneeballeffekt: Was in Hannover begonnen wird, soll sich dann schnell im ganzen Land ausbreiten.
Thümler hofft nun vor allem auf valide Erkenntnisse aus dieser Pandemie-Folgen-Studie, die eine bessere Bewertung von Fakten möglich machen könnten. Zu Beginn der Corona-Pandemie hätten viele Experten Schlüsse aus dem Vergleich mit der Spanischen Grippe gezogen. Teilweise habe man dabei aber falsche Parameter betrachtet, so Thümler. Für ihn ist aber klar: „Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Die Daten helfen uns, beim nächsten Mal schlauer zu sein.“