Wenn Dörfer widerstandsfähig sind, meistern sie den Wandel viel besser
Von Martin Brüning
Oben Felder, unten Felder, links Felder, rechts Felder. Ein bisschen weiter rechts die Elbe. Und in der Mitte leben 1450 Menschen. Das ist Oberndorf in der Samtgemeinde Land Hadeln im Kreis Cuxhaven. Das Institut der deutschen Wirtschaft würde wohl von einem Problemgebiet sprechen, hat es zusammen mit Wissenschaftlern vier deutscher Hochschulen doch gerade erst 19 dieser Problemgebiete identifiziert, zu denen demnach auch die Region Bremerhaven/Cuxhaven/Wesermarsch gehört.
Die problematischen Gebiete haben der Studie zufolge mit lahmender Wirtschaft, wegziehenden Einwohnern und schwacher Infrastruktur zu kämpfen. Oberndorf ist anders, der Ort ist resilient. In der Psychologie ist mit dem Begriff Resilienz eine psychische Widerstandsfähigkeit gemeint. Wer resilient ist, kann Krisen besser bewältigen und sogar Stärken daraus ziehen.
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Alistair Adam-Hernández von der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) befasst sich gerade in seiner Doktorarbeit mit der Resilienz von Dörfern. Er ist bereits in der Endphase der Arbeit, derzeit ist viel Schreiben angesagt. Oberndorf ist in seiner Arbeit einer von drei Orten, mit denen er sich befasst. Die anderen beiden sind Wooler in der englischen Grafschaft Northumberland, ganz im Nordwesten kurz vor der Grenze zu Schottland, und Albarracín im Osten Spaniens.
In Oberndorf will man sich nicht abfinden mit dem dörflichen „Abgehängtsein“ und nimmt das Schicksal selbst in die Hand. Im alten Dorfgemeinschaftshaus ist ein neuer Treffpunkt entstanden: die Kombüse 53 Grad Nord, eine Kulturkneipe, in der man nicht nur essen, sondern auch Konzerte und Lesungen besuchen kann. Es gibt eine Energiegenossenschaft, regelmäßige „Hallo-Nachbar-Treffen“ und sogar eine neue freie Schule, in die inzwischen 40 Schüler zwischen sechs und 16 Jahren gehen. Die Schule sei in einer Phase entstanden, in der man in Oberndorf das Gefühl hatte, dass alles möglich sei, beschreibt Adam-Hernández.
In Oberndorf gibt es eine besondere Anhäufung sehr aktiver Menschen, und es gibt zudem viele Impulse von Menschen, die neu hinzugekommen sind.
Der 32-jährige Wissenschaftler ist von der Aktivität der Bürger in dem Dorf im Norden Niedersachsens beeindruckt. „In Oberndorf gibt es eine besondere Anhäufung sehr aktiver Menschen, und es gibt zudem viele Impulse von Menschen, die neu hinzugekommen sind.“ Es sei nicht immer alles einfach. So habe die Kombüse 53 Grad Nord auch neue, kreative Menschen angezogen, die teilweise auch skeptische Blicke auf sich gezogen hätten. Dennoch gebe es eine Offenheit für Neues und genau das sei auch ein wichtiger Schlüssel für Resilienz.
Der Kern sei allerdings die menschliche Selbstorganisation. Es gehe darum, wie man Dinge vor Ort selbst regeln könne. Dafür müssten Menschen in den Dörfern eigene Organisationsformen finden. Adam-Hernández spricht von einem „Wildwuchs“ von Organisationsformen, im positiven Sinne. Man müsse nicht zwingend eine Aktiengesellschaft gründen, wie man es in Oberndorf unter anderem für eine Biogasanlage gemacht hat. Die ging im Herbst vergangenen Jahres in die Insolvenz, unter anderem deshalb, weil die Biogasanlage teuer hätte nachgerüstet werden müssen und für eine zusätzlich geplante Fischzucht Abnehmer fehlten. Doch trotz des Rückschlags könnten Offenheit für Neues und der Mut, etwas auszuprobieren, Handlungsempfehlungen für Dörfer sein, die sich an Oberndorf ein Beispiel nehmen möchten. Wer etwas riskiert, kann dabei gewinnen.
Das Erfolgsgeheimnis: Offenheit für Neues und Mut zum Ausprobieren
Auf den Ort ist der Diplom-Betriebswirt, der auf der kanarischen Insel Teneriffa geboren wurde, durch einen Dokumentarfilm gekommen. In „Von Bananenbäumen träumen“ erzählte die Filmemacherin Antje Hubert 2016 von dem Dorf mit leerer Gemeindekasse und wenigen Arbeitsplätzen, in dem es aber Ideen und Träume gab. Über einen Zeitraum von drei Jahren hatte Hubert Menschen in Oberndorf begleitet. Inzwischen wird der Film immer wieder in Orten gezeigt, die sich an den Oberndorfern gerne ein Beispiel nehmen würden. Im Anschluss gibt es dann immer wieder Ideenworkshops mit der Kernfrage: Was ist eigentlich unserer Bananenbaumtraum?
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In Spanien, England und Deutschland gibt es für die Orte laut Adam-Hernández allerdings vollkommen unterschiedliche Rahmenbedingungen. Während in England viele Verwaltungsebenen in den vergangenen Jahrzehnten einfach verschwunden seien, gebe es in Spanien zwar mehr davon. Allerdings sei der Austausch zwischen den einzelnen Ebenen so gut wie nicht vorhanden. In Deutschland funktioniere dieser Austausch dagegen gut, der Wissenschaftler hält das deutsche Modell für das ausgewogenste.
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So habe im britischen Wooler die Verwaltungsleere auf der untersten Ebene dazu geführt, dass es dort inzwischen starke Organisationsformen gebe, die sogar mit dem Ortsrat konkurrierten. „Das kann funktionieren. Allerdings gibt es in England, zum Beispiel in ehemaligen Kohleabbaugebieten, auch viele Dörfer, wo die Selbstermächtigung nicht stattgefunden hat“, mahnt Adam-Hernández.
Wem bei wirtschaftlichen und demographischen Problemen die Verwaltungsstrukturen fehlen, fällt tiefer. Auch wenn er das deutsche System im Vergleich zu anderen Modellen lobt, gibt es dennoch etwas, das er sich von der Verwaltung hierzulande wünscht: mehr Servicebereitschaft und ein stärkeres Engagement zur Problemlösung.