Sozialpartner streiten: Wie wichtig sind Tariferhöhungen für die Konjunktur?
Die Krise des Volkswagen-Konzerns überschattet die Tarifverhandlungen für die Metall- und Elektrobranche in Niedersachsen. Obwohl der mit rund 100.000 Beschäftigten größte industrielle Arbeitgeber des Landes mit Massenentlassungen und Standortschließungen droht, hält die IG Metall an ihrer Forderung nach einer Entgelterhöhung von 7 Prozent fest, die sie ursprünglich im Juni beschlossen hatte. „Das ist dringend notwendig, weil der Druck auf die Portemonnaies der Kollegen enorm ist“, sagte IG-Metall-Bezirksleiter und Verhandlungsführer Thorsten Gröger gestern vor der ersten Verhandlungsrunde in Hannover. Derzeit habe sich die Inflation zwar wieder auf ein Vorkrisenniveau eingependelt. „Die Preise sind ja aber nicht gesunken, sie steigen nur nicht mehr so stark“, betonte der Gewerkschafter und merkte mit Blick auf die Absatzkrise der heimischen Automobilwirtschaft an: „Wenn die Kollegen kein Geld in der Tasche haben, werden sie auch keine Autos kaufen.“
Die Arbeitgeberseite legte in der ersten Verhandlungsrunde zunächst kein Angebot vor und kritisierte die Gewerkschaftsforderung als überzogen. „Das passt überhaupt nicht in die derzeitige Landschaft. Unser Bestreben muss es sein, Standorte und Beschäftigung zu sichern“, sagte Niedersachsen-Metall-Präsident und Arbeitgeber-Verhandlungsführer Wolfgang Niemsch. Die heimischen Unternehmen würden bereits ihre Produktion verstärkt ins günstigere Ausland verlagern und immer weniger in den Standort investieren. Deutschland sei im internationalen Standortranking auf Platz 26 abgerutscht. „Da müssen wir dagegenhalten“, forderte der Chef des Maschinenbauunternehmens Lanico aus Braunschweig. Zudem verwies Niemsch auf die Auswirkungen der VW-Krise auf die restliche Wirtschaft und insbesondere die Zulieferbetriebe. „Die Lieferanten stehen sowieso mit dem Rücken zur Wand. Wenn Volkswagen jetzt noch versucht, weitere Preissenkungen durchzusetzen, können wir das nicht verkraften“, warnte der Unternehmer. „In der Automobilindustrie geht es jetzt ans Eingemachte, wie die immer neuen Hiobsbotschaften von VW und etlichen Zulieferfirmen zeigen“, ergänzte Niedersachsen-Metall-Hauptgeschäftsführer Volker Schmidt. Er forderte eine Tarifpolitik mit Augenmaß: „Eine Hochlohn-Branche wie die M+E-Industrie mit einem Durchschnittsgehalt von über 68.000 Euro muss sich stets aufs Neue im internationalen Standortwettbewerb behaupten.“
Ob mehr Geld für die M+E-Branche den Konsum und damit die Konjunktur ankurbeln wird, gilt als umstritten. „Eine Nullrunde wäre volkswirtschaftlich schädlich“, argumentierte Prof. Sebastian Dullien von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung vor wenigen Tagen bei der tarifpolitischen Konferenz der IG Metall in Hannover. Vor rund 400 Gewerkschaftsmitgliedern sagte der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK): „Ein Verzicht auf Lohnerhöhungen würde dazu beitragen, dass die Hoffnung auf einen Aufschwung durch den Konsum geschwächt wird.“ Dabei stützt sich Dullien auf die Prognosen unterschiedlicher Wirtschaftsinstitute, die ein leichtes Wachstum der deutschen Wirtschaft an einen Anstieg der Konsumausgaben knüpfen. Die Arbeitgeber verweisen indes auf eine Analyse des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Dieses kommt in seiner aktuellen Herbst-Konjunkturprognose zu dem Ergebnis, dass die konsumnahen Bereiche von den jüngsten Reallohnsteigerungen und Kaufkraftgewinnen kaum profitiert haben. „Vielmehr halten sich die privaten Haushalte mit Ausgaben zurück und legen einen zunehmenden Teil ihrer Einkommensanstiege als Ersparnis zurück“, sagt Ifo-Experte Prof. Timo Wollmershäuser. Im vergangenen halben Jahr sei die Sparquote auf 11,3 Prozent gestiegen (plus 0,5 Prozentpunkte) und liege damit nun deutlich über dem langjährigen Durchschnitt von 10,1 Prozent vor der Corona-Pandemie.
VW-Haustarif wird früher verhandelt: Die Tarifverhandlungen für den Flächentarifvertrag in der M+E-Branche werden am 21. Oktober weitergehen. Die Friedenspflicht läuft am 28. Oktober aus. „Dann sind theoretisch Warnstreiks möglich“, sagte Gröger. Bereits am 25. September will sich der IG-Metall-Verhandlungsführer erstmals mit VW über den Haustarif für den Autobauer verhandeln. Dabei soll sowohl über Entgeltforderungen als auch über die Beschäftigungsgarantien verhandelt werden, die das Unternehmen jüngst aufgekündigt hatte.
Dieser Artikel erschien am 13.09.2024 in der Ausgabe #159.
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