Soll jeder zum Organspender werden, wenn er nicht ausdrücklich widersprochen hat?
Der niedersächsische Landtag diskutiert und entscheidet am morgigen Dienstag über das Transplantationsgesetz. Damit wird auch hierzulande eine wichtige Frage aufgeworfen: Wie können wir erreichen, dass mehr Menschen Organe spenden – nachdem die Bereitschaft dazu in jüngster Zeit spürbar nachgelassen hat. In einem Pro und Contra beschäftigt sich die Rundblick-Redaktion mit der Frage, ob jeder Bürger automatisch Organspender sein soll – sofern er nicht ausdrücklich widersprochen hat.
PRO: Die Epoche des Individualismus sollte sich ihrem Ende nähern. Es müsste in der Zukunft mehr auf gegenseitige Hilfe und Solidarität ankommen – und die Organspende ist ein gutes Beispiel dafür, meint Klaus Wallbaum.
Die gegenwärtige Stimmung in der Gesellschaft ist widersprüchlich. Das sieht man zum Beispiel an einem ganz heiklen Thema, der Organspende. Wenn man die Bürger auf der Straße fragt, ist eine große Mehrheit dafür – gespendete Organe können Leben retten und für Todkranke eine letzte Hilfe sein. Die Zahl derer, die auf ein lebenswichtiges Organ warten, ist sehr lang. Aber in der Praxis hat die Bereitschaft zur Organspende nachgelassen. Woran liegt es?
Vielleicht ist das schon der Ausdruck einer wachsenden Distanziertheit der Bürger gegenüber den sonst über jeden Zweifel erhabenen Institutionen. Ärzte und Krankenhäuser – das waren über viele Jahrzehnte Einrichtungen, die einen hohen Respekt genossen haben, zu Recht. „Halbgötter in Weiß“ nannte man die Doktoren. Im weltweiten Vergleich sind die Leistungen der medizinischen Versorgung in Deutschland vermutlich immer noch eindeutig Spitze. Aber es gab einige Skandale bei der Zuteilung von Spender-Organen, bei der Beeinflussung und Manipulation der Listen derer, die am dringendsten eine solche Hilfe nötig haben. Daneben gab es noch Vorkommnisse in einigen Krankenhäusern, die einen erschaudern lassen. Der Fall des Krankenpflegers Niels H., der jahrelang vermutlich unerkannt und ohne Eingreifen der Vorgesetzten Menschen in Kliniken töten konnte, schreckt viele auf. Womöglich ist auch das ein Grund dafür, dass Vertrauen verloren gegangen ist. Und wenn man dem System Krankenhaus nicht mehr traut, ist man natürlich weniger bereit, seine Organe zu spenden. Wer weiß denn, was dort damit geschieht?
Das mag in die allgemeine Entwicklung passen. Die Politiker, die Rettungssanitäter, die Behörden, die Medien, die Polizisten und Ordnungskräfte, die Justiz, die Kirchen und die großen Unternehmen (etwa in der Automobilbranche) – alle genießen derzeit nicht mehr das Ansehen und den Respekt, der ihnen früher selbstverständlich entgegengebracht wurde. Nun gibt es viele Beobachter, die dafür volles Verständnis aufbringen und die Schuld für diese Entwicklung eindeutig bei den Vertretern all dieser Institutionen abladen, die sich von den einfachen Menschen entfernt hätten und sich nun gefälligst mehr bewegen müssten. Die Frage darf aber erlaubt sein, ob nicht auch die andere Seite Fehler begeht. Erleben wir nicht auch in der Gesellschaft selbst einen gefährlichen Trend der Vereinzelung, Radikalisierung und Entsolidarisierung? Warum ist so viel Vorsicht geboten bei der Debatte über die Widerspruchslösung? Weil man meint, den Menschen einen solchen Eingriff in das persönliche Selbstbestimmungsrecht nicht zumuten zu dürfen. Das überzeugt aber nicht.
Zum einen kann auch bei einer Widerspruchslösung jeder, der seine Organe im Fall des Todes nicht zur Verfügung stellen will, weiterhin diesen Weg festlegen. Er müsste dafür nur, das ist der Unterschied zu heute, selbst aktiv handeln. Die Freiheit der Entscheidung aber wird ihm auf keinen Fall genommen. Zum anderen ist es mal angebracht, an die Prinzipien unseres Zusammenlebens zu erinnern. In unserer Rechtsordnung endet die Freiheit jedes Menschen dort, wo die Freiheit eines anderen berührt ist. Wenn also jemand gestorben ist und ein anderer seine Organe braucht, um überleben zu können, dann muss die Lebensrettung des vom Tod bedrohten das höhere Gut sein. Eine solidarische Gesellschaft, die auf diesem Prinzip beruht, dürfte eigentlich gar nicht lange über diese Frage diskutieren. Sie würde auf einen Gemeinschaftssinn vertrauen, der auf gemeinsamen Werten, Überzeugungen und Einstellungen beruht. Aber vielleicht ist gerade das unser aktuelles Problem: Dass der Vorrat an diesen Gemeinsamkeiten viel zu klein und der Individualismus viel zu groß geworden ist. Wichtig wäre, hin und wieder ein Zeichen dagegen zu setzen. Eine verpflichtende Widerspruchslösung bei der Organspende wäre ein solches Signal.
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CONTRA: Statt einer Widerspruchsregelung braucht es mehr Aufklärung und verbesserte Systeme in den Krankenhäusern. Das geplante Gesetz in Niedersachsen ist dabei ein wichtiger Baustein, meint Martin Brüning.
Den Anhängern einer Widerspruchslösung sind gute Vorsätze zu unterstellen. Das macht die Gegenposition auch so schwierig. Denn was sollte man schon dagegen haben, den rund 10.000 Patienten zu helfen, die auf ein Spenderorgan hoffen? Zudem sterben jedes Jahr rund 1000 Menschen, die auf ein Organ warten. Zugleich haben nur zwölf Prozent der Menschen einen Organspendeausweis. Und im vergangenen Jahr wurden bundesweit nur 797 Organe transplantiert. Reichen diese Zahlen als Grund dafür aus, die Spende abzuschaffen und eine Pflicht zu verordnen?
Schon allein bei einem Blick auf Erfahrungen in anderen Ländern sind erste Zweifel angebracht. Nicht immer führt eine Pflicht automatisch zu mehr Spendern. So wurde in Schweden das Verfahren mehrmals geändert, ohne dass sich das signifikant auf die Zahl der Organspender auswirkte. Spanien ist zwar weltweiter Spitzenreiter bei Organspenden. Die Rate ist doppelt so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Zugleich gibt es in Spanien aber auch eine kritische Debatte über Ethik, weil Ärzte in einigen Kliniken Prämien für Organspenden bekommen.
Die ethische Frage ist ein zentraler Faktor in der Diskussion über eine Widerspruchslösung. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt auch für die Würde des Menschen, bei dem im Krankenhaus der Hirntod festgestellt wird. Hätte er im Fall der von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vorgeschlagenen Regelung zu Lebzeiten nicht widersprochen, unterläge sein Körper einer staatlichen Sozialpflicht. Das ist nicht nur ethisch heikel, sondern auch ein harter Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht. Die Frage einer Organspende geht tief hinein in einen persönlichen Bereich, in dem der Staat nun wirklich nichts zu suchen hat. Nicht jeder Mensch möchte seinen Körper als reines Ersatzteillager sehen. Das kann man moralisch kritisieren, aber man sollte diejenigen nicht dazu zwingen, sich per Widerspruch auch noch explizit erklären zu müssen. Jeder kann sich bereits heute mit der Frage intensiv beschäftigen und seine Bereitschaft, Organe zu spenden, mit einem Organspendeausweis dokumentieren. Der Ruf nach einer Widerspruchsregelung ist entweder Ausdruck einer politischen Hilflosigkeit oder einer Trägheit, sich öffentlich immer wieder mit dem Thema auseinanderzusetzen und Aufklärungsarbeit zu leisten.
Nicht jedes Nein zum Organspendeausweis ist mit der klaren Ablehnungen einer Organspende gleichzusetzen. Viele Menschen stehen einer Organspende oder auch einer Widerspruchslösung kritisch gegenüber, weil ihnen das Vertrauen in das Organvergabesystem fehlt. Die Strukturen sind ihnen nicht transparent genug, die Vergabe zu stark beheimatet in einem System von Ärzte-Funktionären. Im aktuellen System hat die Bundesärztekammer zu viel und der Staat zu wenig Einfluss. Besser wäre es, dem Parlament mehr Kompetenzen zu geben, um dort wichtige Fragen zu klären, bei denen es um die Verteilungsgerechtigkeit bei Spenderorganen geht. Eine Pflicht würde das Vertrauen in das System nicht stärken.
Statt einer Widerspruchsregelung braucht es mehr Aufklärung und verbesserte Systeme in den Krankenhäusern. Das Gesetz, über das am Dienstag im niedersächsischen Landtag abgestimmt werden soll, ist dabei ein wichtiger Baustein. Der Transplantationsbeauftragte kann nicht nur dabei helfen, potenzielle Spender zu identifizieren, sondern auch die Angehörigen vertrauensvoll zu beraten. Damit machen sowohl der Staat als auch die Mediziner erst einmal ihre Hausaufgaben. Sie müssen Vertrauen aufbauen und keine neue Bürgerpflicht beschließen.