Sind die „bösen Sachsen“ Schuld am Bild der Deutschen? Welch ein Unsinn!
Darum geht es: Die gewalttätigen Ausschreitungen in Chemnitz rütteln die Republik auf. In vielen Zeitungen erscheinen jetzt Sonderseiten, die sich mit dem „fremden Ossi“ und den so sonderbaren Zuständen in Sachsen beschäftigen. Dazu ein Kommentar von Klaus Wallbaum.
Eine deutliche Botschaft vorweg: Wenn Menschen auf die Straße ziehen und jene jagen und verfolgen, die eine andere Hautfarbe, einen anderen Namen und eine andere Religion haben, dann kann man dafür kein Verständnis entwickeln. Man kann versuchen, die Motive dieser Leute zu ergründen. Nachsicht haben aber darf man nicht – ein solches Verhalten gehört verfolgt und geahndet, die Polizei und die Justiz müssen konsequent durchgreifen. Es ist erschreckend, dass in einer gestern verbreiteten Umfrage nicht mehr als 95 Prozent diese Ausschreitungen in Chemnitz verurteilt haben, sondern – durchschnittlich – nur rund zwei Drittel. Immerhin: Es gab keinen drastischen Ost-West-Unterschied. Aber auffällig ist, wie viele AfD-Anhänger sich ausdrücklich einer Distanzierung zu den Vorkommnissen verweigern. Sehr viele der vielbeschworenen „Wut-Bürger“ gehen in ihrer Wut offenbar so weit, dass sie vor der Menschenwürde von Minderheiten keinen Respekt mehr haben. Hauptsache Protest, Hauptsache Provokation. Das ist bitter.
Heutzutage gibt es stets zwei Wirklichkeiten, die eine Debatte bestimmen, prägen und in eine Richtung lenken können. Da ist zum einen das, was wirklich passierte. Hier ist festzuhalten: Proteste gegen die angebliche „Überfremdung“ und fremdenfeindliche Parolen hört man besonders oft aus Sachsen, die Polizei agierte wiederholt zurückhaltend. Ausländerfeindlichkeit scheint hier auf einen besonders starken Resonanzboden zu stoßen. Die andere Wirklichkeit betrifft das, was über die Vorkommnisse berichtet wird und sich in unterschiedlichen Kanälen verbreitet. Die vielen Zeitungsberichte über Sachsen, die jetzt vor allem in westdeutschen Redaktionsstuben verfasst werden, haben für viele Westdeutsche auch eine entlastende Wirkung: Das sind die da drüben, die so denken, nicht wir. Deutschland mag ein Problem haben, aber es liegt an den rückständigen Sachsen, heißt es. Der Publizist Jakob Augstein hat den ostdeutschen Freistaat dieser Tage als „das deutsche Ungarn“ bezeichnet und gemeint: „Die wollen unser Geld, nicht unsere Werte.“
Die traurige Arroganz des Westens
Die im Westen immer latent gepflegte und bei traurigen Anlässen wie jetzt wieder hochkochende Arroganz gegenüber den Ostdeutschen ist nicht nur ungerecht, sie vergrößert auch die Probleme. Gewagt sei hier die These, dass die wahren Ursachen für Fremdenfeindlichkeit, Missachtung der Politiker und der Medien im Osten mit einer tiefen Enttäuschung einhergehen, die gerade frühere DDR-Bürger gegenüber der deutschen Politik empfinden. Generell wächst die Distanz zwischen Regierenden und Regierten, überall in Deutschland, ja in Europa. Im Osten und vor allem in Sachsen ist das deshalb noch krasser, weil sich dort mehr Menschen als „Verlierer“ fühlen – Arbeitslosigkeit und Abwanderung sind größer, Entwicklungschancen kleiner.
Von Angela Merkel, die als Ostdeutsche eigentlich „eine von uns“ sein müsste, fühlen sich viele Ostdeutsche nicht beachtet – und deshalb wächst der Neid auf die Flüchtlinge, die gerade von Merkel besondere Wertschätzung erfuhren. Es sind also nicht nur Wutbürger, sondern auch Neidbürger. Im Westen gibt es sie auch, diejenigen, die sich als Opfer von Globalisierung und Digitalisierung fühlen, weil sie Angst haben, bei dem Tempo der Veränderung abgehängt zu werden. Aber im Osten sind es eben viel mehr. Wenn die – westlich geprägten – Medien darauf mit Unverständnis, Spott und Hochnäsigkeit reagieren, stachelt das den Protest und die Aggressivität vieler Ostdeutscher, der Sachsen besonders, noch an.
Grenzen des Anstands werden gesprengt – warum?
Das alles geschieht vor dem Hintergrund einer in West wie Ost, in Deutschland wie anderen Ländern zunehmenden Rücksichtslosigkeit, Respektlosigkeit und gegenseitigen Missachtung. Politische Debatten waren auch früher ruppig, aber was heute an Geringschätzung und persönlicher Abwertung teilweise ausgetauscht wird – gern im Netz, immer seltener anonym – sprengt immer wieder die Grenzen des Anstands. Woran liegt das? An der Orientierungslosigkeit und an Zukunftsängsten? Oder daran, dass sich Bindungen und alte Gewissheiten auflösen? Man könnte jedenfalls anfangen, darüber einen offenen Diskurs zu führen, der zu allererst selbstkritisch sein müsste. Wenn sich dann aber immer wieder Menschen vorwagen und mit dem Finger auf die „bösen Sachsen“ zeigen, die angeblich so anders sind als die Guten im Westen, wird daraus sicher nichts.