„Wir in Europa und Deutschland müssen sehr viel mehr für unsere Sicherheit und Verteidigung machen“: Vor zehn Jahren wäre diese Aussage des EU-Außenausschussvorsitzenden David McAllister (CDU) trotz der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland noch müde belächelt worden. Der „Pax Europaea“ schien damals trotz aller russischer Allmachtsphantasien unerschütterlich zu sein. Zwei Jahre nach dem großangelegten Überfall von Putins Schergen auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich jedoch ein anderes Bewusstsein etabliert. Die eingangs zitierte McAllister-Forderung ist in der Breite der Bevölkerung mittlerweile zum Konsens geworden und erzeugt nicht mehr kritisches Stirnrunzeln, sondern bestätigendes Kopfnicken. Wie selbstverständlich die Akzeptanz von Rüstungswirtschaft und Aufrüstung geworden ist, machte vor einigen Tagen kurioserweise ausgerechnet eine Protestveranstaltung vor dem Rheinmetall-Werk im niedersächsischen Unterlüß (Kreis Celle) deutlich. Dort hatten sich mehrere hundert Menschen zusammengefunden, um Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auszubuhen – nicht aber etwa für die von ihm ausgerufene Zeitenwende in der Sicherheitspolitik, sondern für seinen Umgang mit den Landwirten. Die Eröffnung einer neuen Munitionsfabrik für Artilleriegeschosse war nur für ganz wenige Friedensaktivisten ein Thema, deren Anzahl sich im Vergleich zu den Demonstrationen vergangener Jahre am Standort Unterlüß anscheinend sogar verringert hat.

Bei seinem Besuch bei Rheinmetall in Unterlüß betont Bundeskanzler Olaf Scholz, wie wichtig eine „flexible, moderne und tüchtige Verteidigungsindustrie“ ist. | Foto: Bundesregierung/Steins

„Zur Sicherung der strategischen Souveränität Deutschlands im Bereich der Munitionsherstellung schaffen wir eine nationale Produktionsstätte, die neue Maßstäbe setzt und vor allem die Versorgung der Bundeswehr sicherstellen wird. Wir tun dies aus der Verantwortung und dem Willen heraus, mit unseren Technologien maßgeblich zur Verteidigungs­fähigkeit unseres Landes und unserer Nato-Partner beizutragen“, sagte Rheinmetall-CEO Armin Papperger zur Begründung für den Neubau. Dass sich mit der Produktion von Artilleriemunition für die Bundeswehr jetzt und in Zukunft viel Geld verdienen lässt, dürfte für den Aktienkonzern allerdings eine nicht minder wichtige Rolle gespielt haben. Während weite Teile der deutschen Industrie derzeit nach dem Grundsatz „Bestandspflege im Inland, Produktionszuwachs im Ausland“ vorgehen, ist die 300-Millionen-Euro-Investition von Rheinmetall in der Südheide ein deutliches Zeichen: Kapazitätsaufbau rechnet sich für die Rüstungswirtschaft auch am Standort Deutschland. Auch wenn die Rüstungsausgaben und das Bundeswehr-Sondervermögen in Berlin immer wieder umstritten sind, hat es die Ampel-Regierung trotzdem geschafft, den deutschen Rüstungsunternehmen ein Gefühl von Investitionssicherheit zu geben. Es zeigt sich, dass ein Industriezweig trotz schwieriger Standortbedingungen wachsen kann, wenn sich die Koalitionspartner auf eine gemeinsame Marschroute einigen und nicht ständig den Kurs wechseln.

Mit 12,2 Milliarden Euro liegen die deutschen Rüstungsexporte auf dem höchsten Wert seit Beginn der Statistik im Jahr 2009. Das hängt zwar größtenteils mit den Waffenexporten für die Ukraine (4,4 Milliarden Euro) zusammen, aber auch die Exporte in EU-, Nato- und Nato-gleichgestellte Länder wie Südkorea oder Singapur haben kräftig zugelegt. Die Zahlen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rüstungsunternehmen ihre Produktionskapazitäten bislang kaum aufgestockt haben. Wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri vor einigen Wochen meldete, sind die Waffenverkäufe im Jahr 2022 global betrachtet sogar zurückgegangen. „Trotz neuer Aufträge konnten viele US-amerikanische und europäische Rüstungsunternehmen ihre Produktionskapazitäten aufgrund von Arbeitskräftemangel, steigenden Kosten und Unterbrechungen der Lieferkette, die durch den Krieg in der Ukraine noch verschärft wurden, nicht wesentlich steigern“, berichteten die Friedensforscher. Die große Nachfrage nach Material, das für einen Zermürbungskrieg geeignet ist (vor allem Munition und gepanzerte Fahrzeuge), sei vor allem aus den Beständen genommen worden. Die aktuelle Lage bei der deutschen Artilleriemunition beschreibt Rheinmetall dazu passend wie folgt: „Die Lager der Bundeswehr sind leer, ihr Bedarf an Munition wird auf rund 40 Milliarden Euro geschätzt.“ Der hohe Munitionsverbrauch in der Ukraine verschärfe die Lage, die Produktionskapazitäten seien darauf nicht ausgelegt.

Das Zwischenfazit für die deutsche Rüstungsindustrie lässt sich am besten mit den Worten ausdrücken, mit denen Oberst Dirk Waldau im November 2023 den Zustand der Heimatverteidigung im Landeskommando Niedersachsen beschrieb: „Die Kriegstüchtigkeit ist bisher nicht erreicht.“ Dass Deutschland bei den Militärausgaben erstmals das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erfüllt hat, lässt zwar auf Besserung hoffen. Das Versprechen von Bundeskanzler Scholz, dass die Bundesrepublik dieses Ziel auch künftig erreichen wird, ist derzeit aber wenig glaubwürdig. Um den russischen Aggressor ernsthaft abzuschrecken, muss eine Sicherheits- und Verteidigungsindustrie her, die einen glaubwürdigen Beitrag zur Ausrüstung der Nato-Streitkräfte beitragen kann. Wenn der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter sagt, „dass wir eher 300 statt 100 Milliarden Euro benötigen, damit die Bundeswehr kriegstüchtig wird“, dürften ihm hinter vorgehaltener Hand auch die Regierungsvertreter recht geben. Allerdings hat die Bundesregierung trotz Rekord-Steuereinnahmen keinen Plan, wo das Geld dafür herkommen könnte. Zur Wahrheit gehört aber leider dazu: Wer in Frieden und Sicherheit leben möchte, muss sich das auch etwas kosten lassen und notfalls dafür an anderen Stellen einsparen.