13. Juli 2022 · 
Justiz

SED-Opferbeauftragte Zupke: "Westdeutsche Firmen sollten Entschädigung zahlen"

Die Bundesbeauftragte der Opfer der SED-Diktatur, Evelyn Zupke, spricht im Rundblick-Interview über die Zwangsarbeit in DDR-Gefängnissen und über die moralische Pflicht zur Entschädigung der Opfer. | Foto: Inga Haar/Deutscher Bundestag, Archiv Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Montage: Rundblick

Seit gut einem Jahr arbeitet die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Evelyn Zupke als Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur. Sie hat damit gewissermaßen die Nachfolge des letzten Stasi-Beauftragten Roland Jahn angetreten. Zupke ist Ansprechpartnerin für alle, die unter der kommunistischen Diktatur in der DDR gelitten haben. Für die Stasi-Akten indes ist sie nicht zuständig, diese liegen jetzt im Bundesarchiv verwahrt. Im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick äußert sich die Bundesbeauftragte zu aktuellen Themen.

Rundblick: Frau Zupke, gerät die DDR-Vergangenheit in Gefahr, vergessen zu werden?

Zupke: Manchmal glaube ich: ja. Sicher, auf den Lehrplänen steht die Vermittlung dessen, was zwischen 1945 und 1990 in den heutigen neuen Bundesländern passiert ist. Aber in der Praxis hängt es ja doch sehr oft vom Engagement des jeweiligen Lehrers ab, ob er sich Mühe mit diesem Stoff gibt – oder womöglich darüber sogar hinweggeht. Erst wenn dieser Unterrichtsstoff auch prüfungsrelevant wird, ist die Gewähr für eine angemessene Behandlung im Schulunterricht gegeben. Im Übrigen meine ich, dass für jede Schulklasse ein Besuch in einer Wirkungsstätte von SED-Staat und Stasi, etwa in Hohenschönhausen oder in der Gedenkstätte des Frauenzuchthauses Hoheneck, verpflichtend sein sollte. 

Rundblick-Chefredakteur Klaus Wallbaum im Gespräch mit Evelyn Zupke. | Foto: Niels Schwiderski/Deutscher Bundestag

Rundblick: Viele im Westen denken vermutlich: Lasst‘ mich doch mit diesen Ost-Themen in Ruhe…

Zupke: Das mag sein. Aber ich bin davon überzeugt: Die Geschichte des Unterdrückungsapparates der SED in der DDR ist auch eine gesamtdeutsche Geschichte. Wer sie erzählen will, wird ganz schnell Aspekte finden, die auch den Westen berühren.

Rundblick: Zum Beispiel?

Zupke: Nehmen wir die Zwangsarbeit in den DDR-Gefängnissen und in den Jugendwerkhöfen, in denen Jugendliche inhaftiert waren. Es gab in der DDR 250.000 politische Häftlinge in den Gefängnissen und 134.000 Jugendliche, die in den Jugendwerkhöfen und in den Spezialkinderheimen untergebracht waren. Ganz viele von ihnen mussten auch Zwangsarbeit leisten – und Zwangsarbeit geschah immer zu unwürdigen, oft zu gesundheitsschädlichen Bedingungen. Nutznießer sind häufig Firmen im Westen gewesen, die dann günstig Produkte in der DDR eingekauft und dafür D-Mark an den SED-Staat gezahlt haben. Ich denke daran, dass im Umfeld des Chemiestandortes Bitterfeld Gefangene ohne ausreichenden Schutz mit Quecksilber hantieren mussten. Oder im Frauengefängnis Hoheneck, wo im Dreischichtsystem das Rohmaterial für Strumpfhosen über Heißformer gezogen werden musste. Etliche Frauen haben sich damals bleibende Verletzungen eingefangen. 

Rundblick: Welches Ausmaß hatte diese Zwangsarbeit – und wer waren Nutznießer und Auftraggeber? 

Zupke: Wir haben begonnen, das aufzuarbeiten und zu ermitteln. Arbeit in den Gefängnissen geschah immer zu Bedingungen, die außerhalb der Haftanstalt von niemandem akzeptiert worden wäre. Ikea ist die einzige große Firma, die sich als damaliger Auftraggeber zur eigenen Verantwortung bekannt und zunächst einmal Bereitschaft signalisiert hat, sich an einem Fonds für die Entschädigung der Betroffenen zu beteiligen. Andere sind da weitaus weniger kooperativ, der Warenhauskonzern Otto beispielsweise. Aus einer vor Jahren vorgelegten Untersuchung geht hervor, dass Chemiefirmen wie Hoechst, BASF und Bayer Nutznießer waren – und dass im Chemiekombinat Bitterfeld jährlich 500 Strafgefangene für bestimmte Arbeiten eingesetzt worden waren. Wir wollen mittelfristig die Firmen an einen Runden Tisch holen und darüber sprechen, wie weiter vorgegangen wird. Was die rechtlichen Fragen angeht sind die meisten Fälle sicher verjährt, aber die moralische Verantwortung bleibt.

Tausende Frauen mussten im Gefängnis Hoheneck Zwangsarbeit leisten. Etwa 40 Prozent der Häftlinge waren politische Gefangene der SED-Diktatur. | Foto: Archiv Stiftung Sächsische Gedenkstätten

Rundblick: Die Ampel-Koalition hat einen Härtefallfonds angekündigt…

Zupke: Ich freue mich darüber sehr, hier wurde eine langjährige Forderung der Opferverbände, aber auch von mir, von der Politik aufgegriffen. Wir werden sehen, wie dieser ausgestaltet wird. Etwa 50.000 Menschen bekommen eine Opferrente als anerkannte Opfer der SED-Diktatur – da bleibt noch eine Differenz zu den 250.000 politischen Gefangenen und 134.000 Häftlingen in den Jugendwerkhöfen. Aber manche sind schon gestorben – und viele andere melden sich nicht aus Scham, oder weil sie dieses Kapitel in ihrer Geschichte nicht mehr aufklappen möchten. 

Rundblick: Wie läuft denn generell die Rehabilitierung derjenigen, die unter dem SED-Staat gelitten haben?

Zupke: Zunächst muss ich feststellen: Kein Land hat so gute Gesetze, was dies anbelangt, wie die Bundesrepublik. Die Opfer von Stasi-Zersetzungsaktionen beispielsweise, die zum Wahnsinn getrieben werden sollten, erhalten eine Einmalzahlung von 1500 Euro. Das ist nicht viel, aber eine Anerkennung. Leider sind diejenigen, die aus den Grenzgebieten zwangsumgesiedelt wurden, etwa bei der „Aktion Ungeziefer“ 1952 oder später 1961, zwar in der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung erfasst. Die Rehabilitierung bringt aber wenig, weil sie trotz dieses Schritteskeine konkrete Unterstützung erhalten. Dies möchte ich ändern. Die Probleme fangen dann an, wenn Menschen, die dauerhaft unter der Haft oder unter der staatlichen Verfolgung in der DDR gelitten haben und heute unter verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden leiden. Dann müssen sie bisher nachweisen, dass die psychischen oder körperlichen Folgen auf die Haft oder die Verfolgung in der DDR zurückzuführen sind. Die Anerkennung  scheitert allzu oft, zieht sich dann über mehrere Begutachtungen jahrelang hin und führt zu Frustration der Menschen. Viel besser wäre es, wenn wir auch für die SED-Opfer ein vereinfachtes Anerkennungsverfahren einführen – so wie es schon seit Jahren für die in Auslandseinsätzen psychisch und körperlich geschädigten Soldaten geregelt ist.

Rundblick: Sind diese Themen eigentlich typisch ostdeutsch geprägt?

Zupke: Mitnichten. Viele Opfer der SED-Diktatur haben vor 1989 oder danach ihre neue Heimat in Niedersachsen gefunden, in diesem Bundesland agiert eine sehr aktive Gemeinschaft von Menschen, die Betroffene und ihre Rechte vertreten. Die Verbände der Stasi- und SED-Opfer sind hier sehr rege und auch mitgliederstark. Im Übrigen: 2021 gab es 1600 Anträge von Menschen mit Wohnsitz in Niedersachsen, die in ihre Stasi-Akte oder in die Stasi-Akten ihrer verstorbenen Vorfahren Einblick nehmen wollten. Das zeigt einmal mehr: Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ist eben ein gesamtdeutsches Thema.

Rundblick: Ist es auch ein Thema, das zu den Rufen nach „Demokratiebildung“ passt?

Zupke: Unbedingt. Wer anschaulich beschrieben bekommt, welche Mechanismen und Entwicklungen dazu führen, dass Menschen unterdrückt werden, kann am besten Widerstandskräfte entwickeln. Die DDR-Opposition brauchte die Öffentlichkeit des West-Fernsehens und der freien Presse in der Bundesrepublik, anders hätte sie nie ihre Aktivitäten bekannt machen und Hoffnung schöpfen können. Daher ist es so wichtig, die Oppositionellen in Russland in hiesigen Medien zu würdigen und für möglichst viel Transparenz in totalitären Staaten zu sorgen. Und was die Ukraine angeht: Wenn wir zeigen, dass wir den von dort geflüchteten Menschen helfen, dann unterstützen wir das Anliegen derer, die gegenwärtig Opfer dieses grausamen russischen Angriffskrieges werden.

Dieser Artikel erschien am 14.7.2022 in Ausgabe #132.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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